Bisafans Adventskalender 2016: 20. Türchen
Kalter Winter, warmes Herz
Aniki strich durch den kalten Wald. Die Schatten waren sein Zuhause und doch fühlte er sich einsam, und er fror. Das weiße Fell, das seinen Körper in dieser unwirtlichen Jahreszeit schützen sollte, war nur ein dünner Flaum, der kaum gegen den Wind ankam. Das Absol nahm seine Kraft zusammen und hieb schwungvoll mit seinem Horn in das Gebüsch vor sich, sodass die trockenen Äste auseinanderbrachen und zu Boden fielen.
Er spürte eine kalte Berührung in seinem Nacken. Normalerweise sollte sein Pelz dort keinen Tropfen durchlassen, doch eine Schneeflocke war auf ihn gelandet und dank der restlichen Wärme seines Körpers sofort geschmolzen. Er schüttelte sich leicht, so sehr, wie er eben die Kraft dazu aufbringen konnte. Dann lichteten sich die Bäume vor ihm und gaben den Blick auf die Klippe frei, die er schon von seinem ersten Tag auf der Welt an kannte. Kahl, nur von einer zarten Schneedecke umhüllt, reichte der Fels Dutzende Meter weit in die Nacht. Von hier aus konnte man dahinter nur den Himmel sehen, wo zwischen den Wolken hie und da Sterne und der fast volle Mond hervorlugten.
Als Aniki sich weiter auf die Klippe hinaus wagte, erfasste ihn der Wind, der hier ungebremst von Hindernissen angriff, aber das Absol biss die Zähne zusammen und ignorierte den stechenden kalten Schmerz in seinen Gliedern. Seine Mühen wurden belohnt. Er lief bis zum Rand der Klippe, wo der Fels tödlich tief zum Boden abfiel, und dort unten lag zwischen all dem tristen Grau und Weiß ein kleines Dorf, das überall von goldenen Lichtern durchsetzt war. Die Menschen hatten Kerzen vor die Türen gestellt, hatten ihre Fenster und Gartenzäune mit Lichterketten dekoriert und auf dem Marktplatz standen alle Bewohner des Dorfes in einem großen Halbkreis beisammen. In ihrer Mitte stand eine Gruppe von Kindern, deren Gesang das Tal erfüllte und bis zu Aniki hochschallte, so schön, dass sich seine Nackenhaare vor Entzückung aufstellten. Oh, wie gerne wäre er die Klippe hinuntergesprungen und hätte sich zu den Menschen gesellt, die glücklich feierten!
Aber er hatte gelernt, sich vor den Menschen zu hüten. Als er ihnen das letzte Mal zu nahe gekommen war, hatten sie ihn gefangen und ihn seines Fells beraubt. Aniki konnte von Glück sprechen, dass er entkommen war. Dabei hatte seine Mutter ihm schon immer eingetrichtert, sich ja von den Menschen fernzuhalten, denn sie vernichteten, was sie fürchteten, und sie fürchteten jene Pokémon, von denen sie glaubten, dass sie Unglück brachten.
Was konnte Aniki dafür, dass er als Absol geboren worden war?
Sein Blick fiel auf eine kleine buntgekleidete Gestalt, zwei Straßen von dem großen Platz entfernt. Es war ein junges Mädchen, das sich in eiligen kleinen Schritten von der Feier entfernte. Aniki spannte aufmerksam die Brust an und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Was trieb das Kind an? Dann entdeckte er es: Ein Eneco, das von Dachrinne zu Dachrinne sprang. Wenn Aniki ganz genau hinhorchte, konnte er sogar das Fiepen des rosafarbenen Pokémon hören.
Auf einmal erstarrte er. Nicht wegen des Schnees, der immer kälter in seinen Nacken biss. Auch nicht wegen des Windes, der an seinen Gliedern zerrte. Nein, nur wenige Schritte von dem Mädchen entfernt lauerten hinter der nächsten Ecke drei Tranfugil! Aniki machte einen Satz nach vorne, doch der Rand der Klippe hielt ihn auf und so stieß das Absol nur einen markerschütternden Warnschrei aus, der über dem Dorf widerhallte.
Er konnte sehen, dass die Menschen, die auf dem Platz feierten, ihn hörten, denn sie drehten die Köpfe und versuchten herauszufinden, woher der Ton kam. Es kamen Rufe auf und der Gesang des Chors erstarb. Einige Personen entfernten sich von der Menge und schienen Aniki zu suchen. Verzweifelt heulte das Absol auf. Sie sollten nicht ihn suchen, sondern das Mädchen!
Doch da erreichte die Kleine schon die Ecke, den Blick nach oben zu den Dächern gerichtet, wo ihr Eneco noch unbekümmert umher sprang. Viel zu spät bemerkte sie die Geistpokémon, die dann plötzlich vor ihr auftauchten. Zwei schwebten vor ihr in der Luft, eins schnitt ihr den Fluchtweg nach hinten ab. Aniki erschauderte. Tranfugil ernährten sich von der Angst anderer Wesen. Wie viel Furcht würden sie dem Mädchen aufzwängen, um sich daran zu laben?
Panisch sprang Anikis Blick zwischen der düsteren Ecke und dem Dorfplatz hin und her. Er sah, dass einer der Menschen zu ihm hoch deutete - er war enttarnt. Und das hieß, dass sie sich nicht mehr auf die Suche nach dem Mädchen machen würden. Aber die Tranfugil!
Aniki spannte die Muskeln an. Er konnte es nicht den Menschen überlassen, das Kind zu retten. Sie hielten ihn für einen Unheilsboten und übersahen dadurch die Katastrophe, die sich direkt neben ihnen anbahnte. Anikis Gefühl hatte ihn heute zu diesem Dorf geführt; er würde das Mädchen vor dieser traumatisierenden Erfahrung bewahren.
Das Absol sammelte für einen Moment Energie in seinem Horn, das dadurch weiß zu leuchten begann, und ließ sie im nächsten Moment prickelnd durch seinen Körper strömen. Gleichzeitig machte es einen Satz nach vorne und biss die Zähne zusammen, als seine Pfoten sich vom Boden lösten und er hinterm Rand der Klippe in den Abgrund stürzte. Die Luftmasse boxte ihm auf seinem Weg ungestüm in den Brustkorb, als wollte sie ihn am Fallen hindern und für einen Moment fühlte Aniki sich, als würde er in der Luft still stehen. Dann war der Augenblick vorüber und er prallte auf der Straße auf wie ein einschlagender Meteor. Um ihn herum stob Schnee in die Höhe und raubte ihm einen Atemzug lang die Sicht.
Er schüttelte sich und hievte sich leise ächzend auf alle Viere. Seine Scanner-Attacke hatte ihn vor schlimmeren Schäden bewahrt, aber er spürte den Aufprall trotzdem in den Knochen. Egal. Es gab Wichtigeres. Direkt vor ihm schwebte eines der Tranfugil in der Luft, jenes, das den Rückweg des Mädchens abtrennen sollte. Es zog die Augen zusammen, als es erkannte, dass ein Gegner auf dem Feld erschienen war.
“Lass uns in Ruhe, Unheilsbringer”, zischte das Geistpokémon bedrohlich.
Aniki schüttelte sich das Schnee vom Körper und fletschte die Zähne. “Niemals.”
“Hörst du nicht die Menschen?”, fragte das Tranfugil. Und ja, Aniki hörte sie, die wütenden Stimmen, die in den Gassen hinter ihm widerhallten und immer näher kamen. “Wenn sie dich finden, werden sie dich fangen, ja noch schlimmer, sie werden dich -”
“Sei still”, knurrte das Absol. Sein Horn glühte wieder auf, angetrieben von Wut und vor Sorge um das kleine Mädchen, das mit angstverzerrtem Gesicht auf die Knie gefallen war. Er würde das Mädchen retten, selbst wenn das bedeutete, dass die Menschen ihn fanden. Ja, er hätte einfach davonlaufen können und wäre sicher gewesen. Aber so jemand war Aniki nicht. Er wollte kein Feigling sein! Seine Entschlossenheit entlud sich in silbernen Klingen, die mit einem Mal um das Tranfugil wirbelten.
Das Geistpokémon riss die Augen auf, offensichtlich überrascht von der Wucht des Angriffs. Dann glühten seine Augen auf und eine dunkle Kugel schoss auf Aniki zu. Im letzten Moment konnte er ausweichen, indem er auf die andere Straßenseite sprang, doch dann stand er schon an der Wand des nächsten Hauses und das Tranfugil richtete erneut seinen Spukball auf ihn.
Verbissen senkte Aniki den Kopf und stürmte auf das Tranfugil zu. Blind rannte er in die Attacke, die sich auf seiner Stirn und seinen Schultern anfühlte, als würde ihm jemand bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Wütend aufbrüllend stieß Aniki sich vom Pflasterstein ab und biss das Tranfugil in seinen geisterhaften Körper. Das Pokémon erschlaffte unter der Attacke und ließ sich zu Boden fallen. Das Absol schaute seinen Gegner kurz abschätzend an und entschied dann, dass es ihn K.O. geschlagen hatte.
Aniki sprang weiter vorwärts und kam neben dem Mädchen zum Stehen. Er warf den beiden weiteren Geistpokémon ein wütendes Fauchen zu, ehe er den Kopf vorsichtig zu der Kleinen senkte. “Ich bin hier, um dich zu beschützen”, sagte er, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie ihn verstand. In ihren Augen loderte Angst, die so ein junges Wesen niemals fühlen sollte. Aber dann nickte sie langsam und hob eine Hand an, die sie an Anikis Schulter legte. Er nickte sanft, doch in seinen Augenwinkeln sah er schon, dass die beiden Tranfugil eine gemeinsame Attacke vorbereiteten. Er fluchte gequetscht auf und schob die Kleine mit dem Kopf gegen ihre Schultern zur Seite. Sie verstand ihn und drehte sich um, rannte zur nächsten Wand und kauerte sich dort zusammen, wobei sie die Pokémon wie gebannt beobachtete.
Gemeinsam beschworen die beiden Geistpokémon in der Luft violette Steine, deren scharfe Kanten im Mondlicht bedrohlich funkelten. Aniki schluckte. Es war zu spät, um sich zu verteidigen, also biss er die Zähne zusammen und ließ die Juwelen auf sich niederhageln. Er stellte sich vor, dass es nur Blätter waren, die der Herbstwind auf ihn warf, doch selbst seine Fantasie konnte ihn nicht von der Wucht der Attacke ablenken.
Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich wieder so weit gefasst hatte, dass er tief durchatmen und zu seinen Kontrahenten aufblicken konnte. Ihren Augen glühten schon wieder, was nichts Gutes verhieß. Schnell spannte Aniki sich an, kauerte sich leicht zusammen, um im nächsten Moment mit umso mehr Kraft abzuspringen und seine Klauen in das rechte Tranfugil zu schlagen. Nachdem es drei Hiebe eingesteckt hatte, wirbelte Aniki wieder herum und ließ die geballte Energie der Nacht in seinen Schlägen auf seinen zweiten Gegner einprasseln, bis auch der geschlagen am Boden lag. Zufrieden blieb er stehen und betrachtete das besiegte Pokémon. Seine Brust hob und senkte sich in rasendem Rhythmus, das Adrenalin pochte noch immer herausfordernd in seinen Adern. Aber seine Aufgabe war erledigt.
Etwas knallte in Anikis Nacken und ließ ihn für einen Sekundenbruchteil fürchten, dass sein Genick brach. Er wurde zu Boden geschleudert, direkt neben das bewusstlose Geistpokémon, und alle Luft aus seiner Lunge gedrückt. Er kämpfte gegen das Gefühl der Ohnmacht an und sprang wieder auf, dem Tranfugil entgegen, das er zuerst mit Nachthieb attackiert hatte - offensichtlich nicht stark genug. Mit einem weiteren Klingensturm beendete er den Kampf und der letzte seiner Gegner sank inmitten der silbernen Schemen stöhnend zu Boden. Jetzt hatte er es wirklich überstanden.
Aniki ging langsam hinüber zu dem Mädchen, in dessen Augen noch immer Furcht geschrieben stand, doch ebenso Bewunderung und Dankbarkeit. “Danke”, flüsterte die Kleine und stützte sich am Boden auf, um wieder auf die Beine zu kommen. Zögerlich streckte sie den Arm aus und streichelte Anikis Gesicht, seine empfindliche Haut direkt unter den Augen. In all der Kälte des Winters durchströmte ihn auf einmal Wärme.
“Lass meine Tochter in Ruhe, Unheilsbringer!”, schallte eine wutzerfetzte Stimme durch die Gasse. Erschrocken blickte das Absol auf und sah direkt in das Gesicht einer etwa dreißigjährigen Frau mit feuerroten Haaren, deren Fäuste energisch geballt waren. Vor ihr stand ein Enekoro, die Augen eng zusammengezogen und bereit, anzugreifen.
Unsicher machte Aniki einen halben Schritt weg, doch da kam schon Bewegung in das Pokémon. Aniki riss die Augen auf. Sollte er ausweichen? Einen Gegenangriff starten? Das war die Mutter der Kleinen, die er gerettet hatte, er konnte sie doch nicht angreifen!
“Halt!”
Überrascht sah Aniki auf. Das Mädchen hatte sich zwischen ihn und das Enekoro geworfen und kniete nun auf dem kalten Pflasterstein, die Arme weit ausgebreitet und ihre Stimme lauter, als das Absol es einem so kleinen Wesen jemals zugetraut hatte.
Die Kleine schaute unsicher über die Schulter, dann stand sie auf und klopfte sich den Schnee von der Strumpfhose. “Das Absol hat mich vor den Geistpokémon gerettet, du darfst ihm nichts antun!”
Die Mutter runzelte misstrauisch die Stirn. “Absol sind bekannt dafür, Unheil über uns Menschen zu bringen. Bist du dir sicher, Janika?”
Das Mädchen nickte eifrig. “Ganz sicher!” Es machte einen Schritt zur Seite und deutete auf die ohnmächtigen Tranfugil. “Die Geistpokémon wollten mir Angst einjagen, aber Absol hat mir geholfen.”
Langsam entspannten sich die Schultern der Mutter wieder, auch wenn sie noch immer skeptisch schien. Zögerlich kam sie einen Schritt näher. “Absol”, sprach sie Aniki direkt an, “warum hast du Janika gerettet?”
“Weil ich das Richtige tun wollte”, erwiderte Aniki, doch im Gesicht der Menschen spiegelte sich nur Verwirrung wider und er erinnerte sich daran, dass sie seine Sprache nicht verstanden. Hilflos schaute er hin und her und streckte schließlich eine Pfote aus. In den Schnee, der eifrig zu Boden fiel und eine fast glatte Fläche auf der Straße geschaffen hatte, zeichnete er ein großes, wackeliges Herz und schaute dann unsicher wieder auf.
Janika fiel ihm um den Hals. Sie drückte ihr Gesicht in das wenige Fell, das er hatte, und schluchzte herzerweichend. Auch ihrer Mutter stand der Mund offen.
Räuspernd trat hinter der Rothaarigen eine alte Frau hervor. Ihr Gesicht war faltig und sie musste sich zum Gehen auf einen hölzernen Stock stützen, doch ihre Augen strahlten Lebenskraft und Weisheit aus. Als sie zwischen Aniki und den Menschen stand, drehte sie sich um und wandte sich zu ihrer Gemeinde.
“Aus unseren Geschichten und Erzählungen kennen wir Absol als Desaster-Pokémon. Wir denken, dass es Katastrophen mit sich bringt, wenn es uns besucht. Aber dieses Absol hat bewiesen, dass es ein gutes Herz hat. Selbst wenn die Geschichten wahr sein sollten und es Unheil mit sich bringt, dann hat dieses Pokémon alles dafür getan, um Gutes zu tun. Es ist in unser Dorf gekommen, um Janika zu schützen, wohl wissend, dass es unter uns Menschen nicht sicher ist - sein Fell erzählt uns eine bemitleidenswerte Geschichte.” Die Alte ließ den Blick eindringlich durch die Menge schweifen. Mittlerweile musste sich das ganze Dorf an dieser Straßenecke versammelt haben. “Heute feiern wir das Fest der Liebe. Und was ist Liebe wenn nicht das, was dieses Absol unter Beweis gestellt hat? Die Liebe zu den anderen wunderbaren Wesen, die gemeinsam mit uns auf dieser Welt leben. Wir sehen heute, dass unsere Vorurteile unberechtigt waren und hätten fast einen weiteren Kampf angezettelt, anstatt den Frieden zu genießen. Sollten wir nicht glücklich sein, wenn uns so Gutes widerfährt, anstatt alte Ängste aufleben zu lassen? Absol”, nun wandte sie sich zu Aniki, “danke, dass du Janika gerettet hast. Danke, dass du uns gezeigt hast, dass die Welt voller Wunder und voller guter Taten ist.
Hiermit lade ich dich ein, heute mit uns Weihnachten zu feiern. Denn Weihnachten ist das Fest der Liebe, und du hast uns gezeigt, dass Nächstenliebe alle Grenzen überwinden kann, selbst die zwischen Pokémon und Mensch.”