Bisafans Adventskalender 2017: 24. Türchen
Kaum schienen die ersten Sonnenstrahlen durch die Lücken zwischen den Steinen der Höhle, da war Evi schon draußen. Fleur wollte sich umdrehen und weiterschlafen, aber ihre Schwester kam schon wieder herein und jammerte: „Kein Schnee!!!“ „Es wird schon kälter. Der Schnee kommt, wenn er kommt.“, hörte Fleur ihre älteste Schwester Luna sagen, aber Evi war nicht zu beruhigen. „Der kürzeste Tag rückt immer näher und es schneit immer noch nicht! Das kann doch nicht sein!“ „Könnt ihr Nachteulen und Frühaufsteher bitte woanders diskutieren? Ich. Will. Schlafen!“, knurrte Fleur und schob den Kopf zwischen das Stroh. Musste das denn jeden Morgen sein? Seit Wochen schon wartete Evi jeden Morgen auf den Schnee und starrte nur noch die fernen Forstberge an. Wieso konnte sie denn nicht einfach ausschlafen? Wenn es schneien würde, würde Luna doch sofort Bescheid geben, die saß eh jede Nacht wie ein Hoothoot draußen. Evi und Luna setzen sich an den kleinen Tümpel vor ihren Höhlen. „Der Schnee wird schon kommen. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Winter.“, versuchte Luna ihre Schwester zu trösten. „Aber er kam schon im letzten Jahr nicht und im Winter davor war er sofort geschmolzen! Ich will nicht ewig warten, ich will Schnee! Schneepikachus bauen! Schneeballschlachten austragen! Die schönsten Schneekristalle frieren und alle damit glücklich machen!“ „Du immer mit deinem Schnee! Werd‘ mal erwachsen und entwickle dich!“ kam es plötzlich von Flavia. Evi hatte sie nicht kommen sehen. Bevor sie etwas erwidern konnte, lief ihre Flamaraschwester schon lachend weiter zu ihren feurigen Freunden, die am Waldesrand auf sie warteten. „Lass dich nicht von ihnen ärgern!“, sagte Luna. „Aber sie hat Recht...“, murmelte Evi traurig. „Ich bin immer noch nur ein Evoli. Ich will mich doch auch entwickeln und mir einen neuen Namen aussuchen und etwas zur Gemeinschaft beitragen wie Flavia mit ihren Lagerfeuern und Lampen und Fleur mit ihrem Blumenschmuck und den Beerenbeeten. Aber wie soll ich denn als… ach, niemand in unserer Familie hat sich so entwickeln lassen, ich meine...“ Luna war zwar ihre Lieblingsschwester, aber es fiel ihr trotzdem schwer, es auszusprechen. „Du willst ein Glaziola werden wie das, was vor ein paar Wintern mal bei uns zu Besuch war, richtig?“, erriet Luna. „Das weiß ich doch. Du wirst dann eben Eisschmuck herstellen und Schneepikachus und...“ „Und im Frühling ist alles geschmolzen und ich habe keine Aufgabe. Und überhaupt, wie soll ich ein Glaziola werden ohne Schnee, ohne Eis? Vielleicht werde ich doch besser ein Aquana und helfe bei der Wasserversorgung. Ich kann doch nicht ewig ein Evoli bleiben.“ Luna wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein. Evi hatte Recht: Ohne Eis würden ihre Träume nur Träume bleiben und als Nachtara konnte sie wohl kaum etwas daran ändern.
Am Nachmittag suchte Fleur Flavia auf. Sie waren zwar nicht immer nett zu ihrer Schwester, aber irgendwie konnte Fleur sie doch verstehen. Als sie ein Folipurba wurde, stieß sie auch auf Unverständnis – Noch ein Pflanzenpokémon? Wo es doch schon so viele von diesem Typ gab? Wieso wollte sie kein Flamara oder Nachtara sein, wie ihre älteren Schwestern? Sie hatte keine Ahnung, was Evi an der ganzen Kälte nur so toll fand – aber sie hätte sich damals auch für nichts anderes als die Pflanzen entscheiden können. Aber wie könnte man den Schnee ins Tal holen? Jemand musste es doch schon versucht haben! Und wenn einer davon wusste, dann Flavia. Immerhin kannte sie sich doch so gut mit Geschichte aus. „Schnee? Ins Tal? Mit einer Lawine oder wie? Willst du uns alle umbringen?“ Sie hatte Flavias Antwort erwartet, aber das machte es nicht besser. „Nur ein bisschen! Eine kleine Kugel Schnee, dann ist sie glücklich! Du kannst dich doch davon fern halten, wenn es dir zu kalt ist.“, versuchte Fleur sie zu überzeugen. Aber Flavia schüttelte nur den Kopf. „Niemand hat je Schnee ins Tal geholt. Entweder kommt er von alleine – oder eben nicht, das wäre mir eigentlich lieber. Und ich muss jetzt das Feuerholz überprüfen, sorry.“ Mit diesen Worten war ihre Schwester schon wieder weg. Als Fleur nachhause kam, stand Luna gerade auf. „Bleibt die große Tasche jetzt bei den Beeten?“, fragte sie gähnend. Fleur sah sie überrascht an. „Welche große Tasche?“, erwiderte sie. „Naja, die, die Evi vormittags für euch geholt hat? Sie hat mich geweckt beim Suchen, dieses Trampelpokémon. Vielleicht sollten wir sowas besser in der Vorratskammer lagern, dann muss mich niemand beim Schlafen stören, aber so oft benutzen wir die doch auch nicht, schließlich… Fleur?“ „Ich habe Evi seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Was will sie mit der Tasche?“ Langsam begriff auch Luna. „Wohin will sie mit der Tasche???“
Aus der Ferne sahen die Berge gar nicht so weit weg aus. Aber nach einem halben Tagesmarsch musste Evi einsehen, dass sie es niemals bis zur Schneegrenze schaffen würde, bevor es dunkel wurde. Außerdem protestierte ihr Magen.Sie hatte zwar alles Mögliche eingepackt, aber kein Essen, welches es im Tal an jeder Ecke gab. Doch hier gab es nur Gestein. Ihre Pfoten schmerzten, ihre Tasche schien immer schwerer zu werden, das Wasser ging aus und ließ sich ohne Schnee auch nicht nachfüllen. Evi musste es einsehen: Sie hatte ein Problem. Die einzige Lösung war es vielleicht, in dieser Höhle dort Unterschlupf zu finden. Sie war nicht allzu weit entfernt, allemal näher als der Bergipfel mit seinem Schnee. Vielleicht würde es dort wärmer werden? Evi liebte die Kälte, aber auch sie hatte Grenzen. Erschöpft ließ sie sich hinter der ersten Ecke in einer kleinen Nische nieder. Aus dem Inneren der Höhle wehte ein eisiger Wind, draußen begann es zu stürmen. Eine bessere Lösung würde sie nicht finden. Sie wollte gerade einschlafen, als… nein, das war eine Einbildung. Sie war übermüdet. Tapp, tapp… Nein, Wasser konnte es nicht sein. Tapp, tapp, tapp, tapp… es kam näher – und wer immer es war, er versuchte nicht einmal, leise zu sein. Sollte sie sich bemerkbar machen? Aber vielleicht war es ein böses, unheimliches Monster wie die aus den Geschichten, die Flavia immer so gerne erzählte, um ihnen Angst einzujagen? Andererseits klang das wirklich nicht wie ein Monster. Watschelte es? Jetzt konnte es nicht mehr weit entfernt sein, gleich würde es… „Was haben wir denn da? Ein Evoli! Ja, was macht denn ein Evoli hier?“ Evi konnte nicht antworten. Vor ihr stand ein Vogel. Ein knallroter Vogel. Sie hätte ein Gesteinspokémon erwartet oder ein frostiges Eispokémon, aber doch keinen knallroten, watschelnden, lauten Vogel! „Ach, wo bleiben denn meine Manieren? Du siehst erschöpft aus! Ja, komm doch herein, hier zieht es doch. Es gibt gleich eine Abbiegung, dann wird es wärmer! Ich hab Feuer gemacht, denn ich bin ja ein Eispokémon, aber nicht aus Eis, sag‘ ich immer, und diese alten Federn müssen auch mal auftauen. Es wird hier ja auch schon kühl, auch wenn das kein Vergleich zum Gipfel ist… und man muss ja auch nicht nur sich, sondern auch die Vorräte warmhalten, sag‘ ich immer...“ Dieser komische Vogel sah überhaupt nicht gefährlich aus und ihre Tasche hatte er sich auch schon geschnappt. Evi entschied sich, ihm hinterherzulaufen. Er hatte Recht: Schnell hatten sie eine Abbiegung erreicht. Nach links führte ein Gang, der mit Eiskristallen bedeckt war. Es war eisigkalt, aber irgendwie… wunderschön. Die Kälte zog sie an, als wäre sie ihr Zuhause. - „Ja, ist es denn festgefroren? Nach rechts, da wohne ich, da ist es schön warm. Die Eiskristalle sind zwar nicht so schön, sag‘ ich immer, aber im Warmen schläft es sich doch besser, nicht war...“ Evi riss sich von dem Anblick los und folgte ihm. Sie musste sich erst an die Helle des Feuers gewöhnen, aber dann war es doch sehr gemütlich. Der Vogel lebte wohl hier in dieser Höhle. Kristalle, Beeren, kleine Figuren, Dinge, die sie noch nie gesehen hatte, reihten sich aneinander. Und dazwischen überall diese Kartons. Ihr Magen knurrte. „Du hast Hunger? Ja, wie vergesse ich es auch nur, danach zu fragen… Dann habe ich hier für dich: Ein Geschenk!“ Aus dem Nichts zauberte es ein rote Päckchen her und hielt es ihr begeistert unter die Nase. Evi nahm es dankend, aber verwirrt entgegen, öffnete es – und es war randvoll gefüllt mit Beeren. „Woher hast du das alles?“, fragte sie und probierte die erste Beere. „Das ist doch meine Arbeit, sag‘ ich immer. Ich sammle und tausche und kaufe und ernte und baue und verpacke und dann gibt es Geschenke!“ Es sprühte vor Freude. „Und wer kripft daf allef dann?“ mampfte Evi, die sich zwischen Hunger und Gespräch nicht entscheiden konnte. Plötzlich verschwand das Strahlen aus seinen Augen. „Niemand mehr.“, murmelte der Vogel und hob seinen Flügel. Er war geknickt. „Botogel ist alt, Botogel kann nicht mehr fliegen, sag‘ ich immer. Die Kronjuwild würden ja alles in die Täler bringen, aber sie wollen sie nicht verteilen, und sie wollen auch nicht sammeln und tauschen und kaufen und ernten und bauen und verpacken und jetzt bekommt niemand mehr diese Geschenke.“ „Ich kann dir helfen!“, rief Evi. „Ich liebe Geschenke!“ „Aber willst du denn auch weit reisen? Ich musste früher oft in eiskalte Regionen zum Verteilen und viele fliegende Händler treffe ich auch nur auf dem Gipfel. Und im Sommer sitze ich häufig hier und bereite die Geschenke vor. Das ist ein ganzjähriger Job, sag‘ ich immer.“ Er sah sie erwartungsvoll an. „Das klingt wundervoll! Außerdem liiiebe ich Geschenke und Überraschungen und Schnee und.... Ach, ich warte schon seit Jahren auf Neuschnee, weißt du? Am Liebsten wäre ich selbst ein Eispokémon, dann könnte ich es einfach schneien lassen und allen Schnee bringen.“ „Weißt du was?“, sagte Botogel vergnügt. „Wir schlafen erst einmal aus und dann zeige ich dir morgen die Frosthöhle am Ende des anderen Gangs.“ - „Die Frosthöhle?“ Aber er weigerte sich beharrlich, ihr mehr darüber zu verraten, also rollte sich Evi zusammen und wartete auf den nächsten Morgen.
Fleur wurde wieder von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Das Licht wirkte irgendwie anders. Müde, aber doch neugierig tapste sie zu einem Spalt, schaute heraus und sah: Nichts als Weiß. Der Schnee war gekommen. Ach, wenn Evi das nur sehen könnte! Bestimmt hatte Luna das auch schon bemerkt. Warum hatte sie sie eigentlich nicht geweckt? Seit Evi weggelaufen war, kam sie immer schon früher herein und weckte ihre Schwestern auf. Fleur entschied sich, nach draußen zu gehen und nach ihrer ältesten Schwester zu schauen. Tatsächlich stand diese draußen, umringt von bunten Päckchen, und unterhielt sich mit einem hellblauen Pokémon. Konnte das..? Es drehte sich um und der Gesichtsausdruck war unverkennbar. „Evi!“, rief sie und stürmte auf ihre Schwester zu, die prompt im Neuschnee landete. „Wie kalt du bist! Du hast den Schnee gefunden!“ - „Ja, das habe ich, und noch viel mehr.“, lächelte sie. „Und ich bin jetzt Glacia, das Glaziola!“