Masterarbeit - Abschnitt 2
Inhalt
- Sprache
- Sprache in der Auseinandersetzung mit Medien
- Die Sprach- und Angebotsvielfalt der offiziellen „Pokémon“-Website
- Sprachliche Privilegisierung
- Sprachliche Konsequenzen: Aktionen inoffizieller Quellen & das Angebot von Lizenznehmern
- Die „Pokémon“-Animationsserie zwischen West und Ost
- Die Offenheit der japanischen Populärkultur
- „Darf ich an deiner Brust nuckeln?“: Die Entfaltung von „glocalizing“ anhand von Abhängigkeit und Geschlechterrollen
- Quellen
Sprache
Sprache in der Auseinandersetzung mit Medien
„Eine Verständigung zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen setzt voraus, daß man den ‘Anderen‘ als einen gleichwertigen Dialogpartner ernst nimmt.“23
In seinem Buch „Grenzgänge – Fremdgänge: Japan und Europa im Kulturvergleich“ nimmt der Kulturwissenschaftler Shingo Shimada eine
sehr detaillierte Gegenüberstellung vor. Auf Sprache, in unserem täglichen Leben unentbehrlich, geht Shimada logischerweise
insbesondere ein. Nicht weniger wichtig ist Sprache, so möchte ich vorschlagen, bei der Auseinandersetzung mit Medien: Ob man dank
des Mediums nun mit einem fleischlichen Gegenüber oder einem von einem Programmcode gesteuerten Konstrukt kommuniziert, oder
innergedanklich argumentiert, während man liest, klickt, tippt etc. Das handelnde Subjekt ist aus dieser Perspektive selbst
bei einer vergleichsweise passiven Tätigkeit wie dem Lesen zu einem gewissen Anteil aktiv Beitragender. In einem Beitrag zur
Struktur und „agency“ von an Kinder gerichteter Medienkultur thematisieren David Buckingham und Julian Sefton-Greene dies
explizit anhand des „Pokémon“-Franchises. „Pokémon is something you do, not just something you read or watch or consume”24,
argumentieren die Autoren. Die Pokémon seien darauf ausgelegt, Aktivität und soziale Interaktion zu fördern, was vor allem
sichtbar werde, wenn sich ein Individuum mit dem Franchise als Ganzes auseinandersetze:
[I]n order to be part of the Pokémon culture, and to learn what you need to know, you have to actively seek out
new information and new products and, crucially, engage with others in doing so. There is a level of cognitive
activity enquired here, but also a level of social or interpersonal activity without which the phenomenon could not exist.25
Die Sprach- und Angebotsvielfalt der offiziellen „Pokémon“-Website
Vor allen Dingen die offizielle „Pokémon“-Website dient als multifunktionaler Hub, um sich mit dem Franchise
auseinanderzusetzen bzw. sich über dieses zu informieren. Es ist hier nun ertragreich, zu analysieren, inwiefern
dies für Menschen aus unterschiedlichen Ländern ob ihrer Sprachkenntnisse überhaupt möglich ist. Screenshots der
offiziellen Website auf Japanisch, US-amerikanischem Englisch, Deutsch und Griechisch sollen an dieser Stelle
für meine Vergleichszwecke ausreichen. Es fällt sogleich auf, dass sich die japanische Website (siehe
Abbildung 1) eindeutig absetzt. Der Anteil an Bildern und Schriftsprache ist mit den anderen Websites vergleichbar,
doch ist die Struktur eine ganz andere. Alle anderen Websites präsentieren sich mit einer einheitlichen Struktur,
lediglich die Texte unterscheiden sich ob der jeweiligen Sprache. Die Websites intendieren eindeutig, den Rezipienten
zum Agieren zu animieren, wie die Verblastigkeit offenbart. Auf der deutschen Website (siehe Abbildung 2) heißt
es unter anderem „Melde dich jetzt für das Online-Turnier Sinnoh-Klassiker an!“ und „Nimm es mit der Elite auf!“,
auf der US-amerikanischen Website (siehe Abbildung 3) prangen die Aussagen „Get Up and Go with Pokémon GO Today“,
„Determine your Fate in the Pokémon TCG!“ und „Grow Strong with Venosaur-EX!“. Die US-amerikanische Website ist
in ihrem Bestreben sogar noch etwas fordernder. Die obige Navigationsleiste lädt zum Erkunden der einzelnen
Website-Sektionen mit den Labels „Watch Pokémon TV“, „Play Games“ und „Attend Events“ ein, während es auf der
deutschen Website etwas schlichter „Pokémon TV“26, „Onlinespiele“ und „Veranstaltungen“ heißt.
Ungeachtet dessen zeigt sich, dass kein Medium bevorzugt wird, sondern sich die einzelnen Angebote parallel
präsentieren bzw. ineinander übergreifen. Direkt neben dem Hinweis auf eine Anwendung für Smartphones
(„Pokémon GO“) lädt man den Rezipienten zur Teilnahme an Turnieren des Online-Sammelkartenspiels, einem
Einschreiben bei einem Turnier in der realen Welt mit den klassischen Sammelkarten oder auch der Rezeption
von Episoden der Animationsserie ein. Dies entspricht einer holistischen Inszenierung der Franchise-Einstiegsmöglichkeiten
und der Schaffung einer eher vertrauten und persönlichen Umgebung, wie (zumindest im Deutschen) die Verwendung der
„Du“-Ansprache beweist.
Sprachliche Privilegisierung
Was meines Erachtens bezüglich des Aktionsangebots besonders schwerwiegt, ist eine sprachliche Privilegisierung.
Eigenständige Namen besitzen die Pokémon lediglich in den Sprachen Japanisch, Chinesisch, Englisch, Französisch
und Deutsch. In allen anderen Ländern, in denen Medieninhalte des Pokémon-Franchises verfügbar sind, besitzen
die Pokémon ihren englischen Namen bzw. Transkriptionen des englischen Namens. Nur bestimmte Sprachen genießen
daher das Privileg, den gleichen Strukturaufbau wie die deutsche und US-amerikanische Website erhalten zu haben
(das gilt unter anderem für das Französische und das Spanische). Pokémon-Anhänger, die ausschließlich die Sprache
einer vergleichsweise kleinen Sprachgemeinde beherrschen – etwa Griechisch oder Polnisch – werden zu einer Website
weitergeleitet, für die hier stellvertretend die griechische Version steht. Diese ist optisch sehr viel nüchterner
und leitet über sämtliche Links zu den Angeboten der englischsprachigen Website weiter (siehe Abbildung 4).
Noch vertrackter zeigt sich die Situation bei Sprachen, die etwas besitzen, was ich in diesem Kontext einen
„Zwischenstatus“ nennen möchte. Dies trifft beispielsweise auf das Schwedische zu. Die schwedische „Pokémon“-Website
verwendet zwar das Schwedische, greift teilweise jedoch auf das Englische zurück, und zwar mit durchaus herausfordernden
Resultaten, insbesondere für junge Rezipienten. Als Beispiel sei hier der schwedische Informationseintrag zu einem
bestimmten Pokémon gewählt. Das Pokémon Nummer 79 trägt den englischen Namen „Slowpoke“. Möchte sich ein schwedischer
Pokémon-Anhänger über Slowpoke informieren, begegnet ihm, wie Abbildung 5 verdeutlicht, eine Versatzstückung des
Englischen und Schwedischen. Das Wesen des Pokémon ist auf Englisch beschrieben, dazwischen befinden sich schwedische
Ausdrücke für dessen Gewicht („Vikt“) oder Geschlecht („Kön“).
Die offizielle „Pokémon“-Website lädt in der Tat zu einer multiplen Auseinandersetzung mit dem Franchise ein,
die man vollumfänglich allerdings nur in Anspruch nehmen kann, sofern man eine der privilegierten Sprachen
spricht. Auch ein griechischer oder polnischer Pokémon-Anhänger kann online mit den Pokémon spielen oder
Franchise spezifische Narrationen verfolgen, muss dafür aber sprachliche Kompromisse eingehen. Das lässt
sich positiv und negativ sehen: Einerseits dürften dadurch gerade junge Rezipienten umso mehr daran interessiert
sein, sich dem Erlernen der englischen Sprache zu widmen, was sich in ihrem späteren Leben – ob beruflich oder
in anderen Situationen – sicher nicht als Nachteil erweisen wird. Andererseits schließt es aber große Teile
potenzieller Konsumenten aus und/oder macht den Aufbau, wie das schwedische Pokémon-Beispiel zeigt, recht komplex.
Ganz eindeutig zeigt sich an dieser Stelle, dass für in das Franchise involvierte Unternehmen noch jede Menge
Potenzial vorhanden ist, um Rezipienten mit spezifischen Angeboten anzusprechen. In „Spreadable Media: Creating
Value and Meaning in a Networked Culture“ differenzieren Jenkins et al. zwischen den Medien-Zugangsmodellen der
„stickiness” und der „spreadability”. Während das Modell der „stickiness“ auf einen zentralisierten Zugang über
eine offizielle Quelle setzt, beabsichtigt das „spreadability“-Modell den Zugriff auf und die Weitergabe von
Medieninhalten in einem übergreifenderen Sinne mit Berücksichtigung der „user agency“. Jenkins et al.
formulieren es sehr drastisch: „If it doesn’t spread, it’s dead, true enough. But sometimes producers would
rather die than give up control.“27 Stattdessen sollten sich Unternehmen darauf konzentrieren, eben solche
potenziellen Konsumenten basierend auf einem kooperativeren Modell zu erfassen:
These are fans that should be embraced, and, somehow, figured out how to monetize. […] They do not simply
‘buy’ cultural goods; they ‘buy into’ a cultural economy which rewards their participation. And, in such an
environment, any party can block or slow the spread of texts: if creators construct legal or technical blocks,
if third-party platform owners choose to restrict the ways in which material can circulate, or if audiences
refuse to circulate content which fails to serve their own interests.28
Ein seitens der Unternehmen bereitwillig installierter Zugang ist somit voll und ganz im Sinne globalisierender
Medienunterhaltung und würde auch im monetären Sinne Modelle schaffen, mit denen sich Konsumenten – sofern
ein gewisses Angebot sichergestellt ist - arrangieren.29 Schließlich stehe ein solcher Zugang „for greater
responsiveness to audience interest, for greater support for independent media producers, for the wider
circulation of civic and religious media, and for expanded access to transnational media content.”30
Sprachliche Konsequenzen: Aktionen inoffizieller Quellen & das Angebot von Lizenznehmern
Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich für die Auseinandersetzung mit dem „Pokémon“-Franchise eine entscheidende Konsequenz.
Je nach ihren Sprachkenntnissen sind Konsumenten nämlich umso mehr von inoffiziellen Quellen und Lizenznehmern bzw.
Distributoren im eigenen Lande abhängig. Diese Begebenheiten können sich natürlich jederzeit ändern, sodass sich auch
diesbezüglich ein sehr undurchsichtiges Gesamtbild ergibt. Im Zuge meiner Recherche stieß ich jedoch auf einige Fälle,
die diese Schwierigkeiten verdeutlichen und ich hier nun stellvertretend thematisieren möchte. Gedenkt ein
polnischsprachiger Konsument, die Animationsserie anzuschauen, wird er über die offizielle polnische
„Pokémon“-Website zur externen Website des Fernsehsenders „Disney XD“ weitergeleitet. Dieser besitzt
dort aktuell die Lizenz- und Ausstrahlungsrechte der Animationsserie. Weiterführende Informationen oder den
Zugang zu vollständigen Episoden erhält der Konsument dort allerdings nicht.31 Mit etwas Ähnlichem sehen sich
schwedische Pokémon-Fans konfrontiert: Der dort für die Animationsserie zuständige TV-Sender „TV4“ präsentiert
eine nahezu inhaltsleere „Pokémon“-Sektion, ebenfalls ohne Videoclips.32 Für den Online-Zugang zu Episoden
ist der Abschluss eines kostenpflichtigen Abonnements nötig.33 Es sei angemerkt, dass der (ebenfalls kostenpflichtige)
Online-Streamingdienst „Netflix“ die Online-Ausstrahlungsrechte für die „Pokémon“-Animationsserie und –Kinofilme
in vielen der hier behandelten Länder besitzt. Doch divergiert auch hier das sprachliche Angebot enorm. Netflix
bietet häufig nicht die synchronisierten Fassungen, die in den jeweiligen Ländern im klassischen Broadcast-Fernsehen
ausgestrahlt wurden, sondern lediglich die englischsprachige Tonfassung und/oder Untertitel in Landessprache. Umso mehr
sehe ich das von Jenkins et al. angesprochene Potenzial als gegeben, um Konsumenten Zugang zur Animationsserie zu
verschaffen. Tatsächlich verfügbar sind auf der offiziellen „Pokémon“-Website, ungeachtet der Sprache, nämlich immer
nur ausgewählte, aktuelle Episoden. Episoden vergangener Staffeln besitzen dort lediglich eine Kurzbeschreibung des
Plots nebst einiger Standbilder.
Ein Blick auf inoffizielle „Pokémon“-Websites lässt mich das Fazit ziehen, dass viele Fans auch hier letzten Endes
auf englisch- und deutschsprachige Websites angewiesen sind. Reichhaltige Bezugsquellen sind in diesem Bereich
unter anderem die englischsprachige Website „serebii.net“ und die deutschsprachige Website „bisafans.de“.
Anderssprachige inoffizielle Websites sind die Ausnahme. Wenn dennoch vorhanden, entsprechen sie in der Regel
„News-Websites“. Sie berichten in der jeweiligen Landessprache zwar über „Pokémon“-Neuigkeiten, offerieren aber
keinen eigensprachigen „Pokédex“ oder ähnliches. Das gilt beispielsweise für die italienische Website
„pokemonmillenium.net“ oder die griechische Website „legendarypokemon.net“. Interessant ist ferner, welche Mühen sich
Fans vereinzelt dennoch machen, um Gleichgesinnten über inoffizielle Websites kohärentes Informationsmaterial zu
bieten. Ich erwähnte bereits, dass Pokémon in vielen Ländern lediglich über englische Namen verfügen. Ergo existieren
auch von den Kategorien der Pokémon-Typen in solchen Ländern keine „offiziellen“ eigensprachigen Bezeichnungen.
In Polen erscheinen beispielsweise sämtliche „Pokémon“-Videospiele auf Englisch, entsprechend kämpfen Spieler
dort mit Pokémon der Typen „Water“, „Fire“ etc. Eine der wenigen inoffiziellen, polnischen Websites präsentiert
eine übersetzte Übersicht der Pokémon-Typen sowie eine umfassende Aufschlüsselung über deren Vor- und Nachteile.34
Von den Pokémon-Typen „Smok“ (Polnisch für „Drache“) und „Robak“ (Polnisch für „Insekt“) ist innerhalb von in
Polen distribuierten, offiziellen „Pokémon“-Produkten nie die Rede. Dennoch sind die Begriffe hier – ganz im
Sinne des polnischsprachigen Rezipienten – an dieser inoffiziellen Stelle existent.35
Wie sehr Pokémon-Rezipienten bezüglich des „glocalizing“ von Distributoren und dem Format des Mediums an
sich abhängig sind, zeigt sich außerdem an zwei weiteren Beispielen. Über mehrere Jahre kooperierte Nintendo
mit dem Distributor Nortec, um englischsprachige „Pokémon“-Videospiele offiziell in Griechenland zu verkaufen.
Ende 2015 gab das Unternehmen die Zusammenarbeit mit Nintendo jedoch auf.36 Erst im Juni 2016 fand Nintendo in dem
Unternehmen CD Media einen neuen Vertriebspartner für Griechenland und die Balkan-Region, der die Distribution ab
Oktober 2016 übernimmt.37 Über einen Zeitraum von einem halben Jahr waren griechische Rezipienten also auf durchaus
kostspielige Importe angewiesen, um „Pokémon“-Videospiele zu beziehen. Im Gegensatz dazu ist die Verfügbarkeit und
sprachliche Ausdifferenzierung der verschiedenen „Pokémon“-Manga-Reihen beachtlich. Dies lässt schlussfolgern, dass
Übersetzungen innerhalb eines klassischen Medienfeldes, wie dem der Literatur, sehr viel bereitwilliger ausgeführt werden.
Selbst in Ländern, die bezüglich eigensprachiger „Pokémon“-Medieninhalte vergleichsweise wenig Beachtung erfahren,
sind offiziell übersetzte Mangas erhältlich. Dies gilt unter anderem für Polen, Finnland, Griechenland, Vietnam,
Brasilien und die spanischsprachigen Länder Südamerikas.38 Letztendlich fällt es schwer, den online zirkulierenden
„Pokémon“-Angeboten einen eindeutigen Status bezüglich ihrer Herkunft zuzuordnen, da zahlreiche Dritte und Lizenznehmer
involviert sind. Nichtsdestotrotz denke ich, dass die „Japanhaftigkeit“ des „Pokémon“-Franchises auf der offiziellen
Website weitgehend getilgt ist. Schließlich werden viele Rezipienten mit anderen Sprachkenntnissen auf englischsprachige
Angebote verwiesen. Insofern ließe sich auch von einer „Verschiebung“ sprechen. Dennoch ist auf der offiziellen
„Pokémon“-Website das „glocalizing“, wie etwa die deutsch- und französischsprachigen Aufmachungen nachzeichnen,
durchaus gegeben und auch sehr umfangreich. Der „Pokémon“-Manga soll zu einem späteren Zeitpunkt eingehender betrachtet
werden. Nun widme ich mich, unabhängig von Online-Vorkommnissen, der länderspezifischen Modifikation der
„Pokémon“-Animationsserie.
Die „Pokémon“-Animationsserie zwischen West und Ost
Die Offenheit der japanischen Populärkultur
Timothy J. Craig, Herausgeber von „Japan Pop! Inside the World of Japanese Popular Culture“, betont, wie viel freizügiger
sowohl Konsumenten als auch Produzenten in Japan mit populärkulturellen Medien umgingen:
Japan[ese] pop[ular media] wholeheartedly embraces life in all its dimensions, with relatively little in the way of
efforts to shield its audience from unpleasant aspects of life or to ‘raise’ people to more noble or politically correct
standards. […] With an outlook like this, the urge to censor or to ‘elevate’ the audience is felt less strongly than in
societies that are more ambivalent about man’s innate goodness. The world and human nature can be portrayed as they are,
not as they should be.39
Craig verweist beispielsweise darauf, dass Son Goku, Hauptprotagonist der japanischen Anime- und Manga-Reihe “Dragon Ball”
(1986 bis 1989, Japan, Fuji TV), in Japan ohne Weiteres nackt zu sehen sei, während im US-amerikanischen Fernsehen ein
Feigenblatt seine Intimsphäre bedecke.40 Auf den Punkt dieser US-amerikanischen Befangenheit bringe es Kazuhiko Torishima.
Den Herausgeber des japanischen „Shonen Jump“-Magazines zitiert er mit den Worten: „I feel sorry for U.S. kids, who live
in an adult-filtered Disney world.“41 Japanische Medieninhalte verfolgen demnach eine sehr optimistische Darstellung des
menschlichen Wesens und unserer Umgebungen. Sie ist mitnichten apodiktisch und engstirnig, und scheut nicht davor zurück,
menschliche Gelüste und Instinkte unverfälscht zu mediatisieren. Dezisiv ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern
sich Zensurmaßnahmen im Zuge der transnationalen Zirkulation als adäquat oder unangebracht bezeichnen lassen.
„Darf ich an deiner Brust nuckeln?“: Die Entfaltung von „glocalizing“ anhand von Abhängigkeit und Geschlechterrollen
Die „Pokémon“-Animationsserie nimmt das Motiv der Haupt-Videospielreihe auf. Der zehnjährige Ash Ketchum („Satoshi“ im japanischen Original)
zieht in den Episoden durch die aus den Videospielen bekannten Umgebungen, um Pokémon-Meister zu werden. In den ersten Staffeln begleiten
ihn dabei der 15-jährige Rocko (Takeshi) und die zwölfjährige Misty (Kasumi). In Episode 34 namens „Garura no Komori Uta“ (wörtlich übersetzt „Garuras Schlaflied“)
durchkreuzen Ash und seine Freunde ein Dschungelgebiet und helfen einem Ehepaar dabei, dessen vermissten Sohn zu suchen.
Als das Ehepaar vor einigen Jahren mit einem Helikopter über dem Dschungelgebiet unterwegs war, ließ der Vater das Kind versehentlich
fallen, sodass es nun hofft, seinen Sohn dort zu finden. Tatsächlich berichtet daraufhin die dort zuständige Officer Rocky (eine Art Polizistin)
davon, dass in jenem Gebiet ein Junge namens Tommy (Taro) zusammen mit einer Herde Pokémon lebe. Bei diesen Pokémon handelt es sich um
„Kangama“ („Garura“ im japanischen Original), die an Mischwesen aus Dinosaurier und Känguru erinnern (Kangama tragen ihre Jungtiere in
einem körpereigenen Beutel). Tommy wird von diesen Kangama aufgezogen, er ähnelt mit seinem Bumerang und Tigerfell-Bekleidung der „Tarzan“-Figur.
Tommy vermeidet den Kontakt mit Menschen und ist daher in seinen sprachlichen Fähigkeiten recht limitiert. Der Fokus der Episode liegt auf
zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. der Relation zwischen Mensch und Pokémon: Wie ein Jungtier sehen wir Tommy im Beutel eines weiblichen
Kangama und erfahren außerdem, dass ihm das Kangama häufig ein Schlaflied vorsingt, das jenem Schlaflied ähnelt, dass ihm einst seine leibliche
Mutter vorsang. Tommy gerät in einen Zwiespalt, er wird sich der Situation zwischen seinem derzeitigen, für einen Menschen ungewöhnlichen
Dasein mit den Kangama, und einem Leben mit seiner echten Familie (das nun in der Tat eine Option ist) bewusst. Es geht um Zuneigung und
Hoffnungen im Rahmen der Beziehung zwischen einem Kind und seinen Eltern.
Inwiefern divergiert nun die US-amerikanische Fassung dieser Episode vom japanischen Original? Interessanterweise ist die Episode dort
nicht etwa als „Kangashkan’s Lullabye“ bekannt („Kangashkan“ ist die englischsprachige Bezeichnung für Kangama), sondern trägt den
Titel „The Kangashkan Kid“. Schon der Titel lässt also aufgrund des Wegfalls des Wortes „Schlaflied“ nicht an die Beziehung zwischen
einem Kind und seiner Mutter denken. Als Ash, Rocko und Misty das erste Mal auf Tommy treffen, ist er auf eine recht merkwürdige Art
und Weise neugierig, da er seit Jahren keine Menschen gesehen hat. Ein besonderes Interesse scheint er dabei für Misty zu entwickeln.
In einer Szene, in der er neben ihr steht, folgt die Kamera seinen Augen und zeigt daraufhin eine Nahaufnahme von Mistys Brüsten, auf
die Tommy nun fixiert ist. In der japanischen Version fragt Misty daraufhin „Nani-yo?“ („Was ist los mit dir?“), worauf Tommy mit den
Worten „Oppai nonde ii ka?“ („Darf ich an deiner Brust nuckeln?“) eine Gegenfrage stellt. Misty errötet, verpasst Tommy einen Schlag
auf den Kopf (siehe Abbildung 6) und ruft wütend „Doshite so naru no?“ („Warum sagst du so etwas?“). Nun stoßen Tommys leibliche Eltern
hinzu und bitten ihn darum, mit ihnen wieder in sein altes Zuhause zu kommen. Tommy schaut zwischen Misty und seiner Mutter hin und her.
Erneut wendet er sich Misty zu und fragt „Darf ich an deiner Brust nuckeln?“. Nun ist es seine Mutter, die vor Scham errötet.
In der US-Version fehlt die Nahaufnahme von Mistys Brüsten und Tommy stellt ihr die Frage „You people or Pokémon?“. Als seine Eltern
hinzustoßen und er Misty erneut anspricht, lautet seine Frage „They Pokémon or peoples?“. Durchaus ist es glaubwürdig, dass Tommy nach
Jahren abseits menschlicher Zivilisation solche Fragen stellt. Doch spielen Mistys Brüste keine Rolle. Außerdem mag es durchaus der
Fall sein, dass der Rezipient nun Mistys Schlag auf Tommys Kopf sowie das Erröten von Misty und Tommys Mutter als wenig nachvollziehbare
Geschehnisse interpretiert. Wie lassen sich diese Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der japanischen Version nun beurteilen?
Ganz offensichtlich zeigt sich das sehr viel freizügigere Vorgehen japanischer Populärkultur. Tommys Frage zielt in keiner Weise auf sexuelle
Befriedigung ab, sondern präsentiert ihn als naives und sich noch in seiner Entwicklung befindliches Individuum, das auf direktem Wege
seinem Drang nach Nahrung und Fürsorge Ausdruck verleiht. Darin ist er ob seines Lebens unter den Kangama vermutlich noch unbefangener,
als er es wäre, wenn er bei seiner leiblichen Familie leben würde. Die japanische Gesellschaft geht mit dieser Naivität jedoch ganz
anders um, als es westliche Kulturen tun. Diese Strukturen hat die Gesellschaft nicht nur selbst geschaffen, sondern webt sie auch immer
wieder in mediale Kontexte ein. In einer Analyse des Werkes „Buddha“ vom bekannten japanischen Mangaka Osamu Tezuka, bezeichnet Mark
Wheeler MacWilliams den sogenannten „maternal loss“ als essenzielles Leid bzw. Erlebnis eines Kindes. Innerhalb der japanischen Gesellschaft,
und dort speziell für Jungen, sei das Bewältigen dieses Leidens eine Besonderheit:
Many researchers on Japanese childhood have pointed out that the transition from infancy to adulthood is more demanding psychologically
in Japan than in other countries. The famous Japanese psychologist Takeo Doi sees Japanese childhood as marked by feelings of amae
(passive dependence), a continuation of the infant’s experience at the mother’s breast. Children in Japan stay very close to
their mothers in their early years; they are rarely left alone, usually sleep beside their mother, and traditionally have been
carried on their mother’s back […]. Children are also weaned from the breast rather late in childhood. As a result, as Ian Buruma
states, ‘emotional security tends to depend almost entirely on the physical presence of the mother.’ Male children in particular,
and especially eldest sons […], experience in early childhood a paradiselike situation in which they enjoy pure freedom, the indulgence
of their every whim, and unconditional love.42
Diese enge Verbindung zur eigenen Mutter und der gleichzeitige Anspruch, unabhängig zu werden, tauchen in den japanischen Medien und dem
„Pokémon“-Franchise als zentrales Motiv immer wieder auf. Eine auf „dämonische“ Art und Weise agierende Mutter, die ihren Sohn auch im
Erwachsenenalter (vor allen Dingen bezüglich seiner Versuche, eine eigene Partnerschaft aufzubauen) dominiert, war und ist in Japan ein
gern gewähltes Element von TV-Dramen. Dies ließe sich zugleich als indirekte Kritik an einer generellen „inferior position“ von Frauen
in der (japanischen) Gesellschaft interpretieren, urteilt unter anderem Hilaria M. Gössmann in einer Analyse japanischer Geschlechterrollen.
Abhängige Mütter würden dazu tendieren, abhängige Söhne großziehen zu wollen – so nähmen beide Seiten eine Opferrolle ein.43
In der „Pokémon“-Animationsserie zählen Ashs Heimbesuche (siehe Abbildung 7) und Anrufe bei seiner Mutter zu einem der immer wiederkehrenden
Rituale, und zwar von den Franchise-Anfängen in den späten 1990ern bis heute. Dies spiegelt sich auch in der Haupt-Videospielreihe wider:
Der Spieler beginnt sein Abenteuer in seinem Heimatdorf, seine Mutter ist die erste Person die ihm begegnet und mit der er spricht
(siehe Abbildungen 8 und 9). Sie bedauert sein Fortgehen, doch sagt zugleich, dass es ob seines Wunsches Pokémon-Meister werden zu wollen,
unvermeidbar sei. Der Spieler kann im Verlaufe des Spieles sein Heimatdorf jederzeit wieder besuchen und seine Mutter gelegentlich
(per einer Art Mobilfunk-Device) kontaktieren.
Es ist also durchaus ambig, dass derartige Aspekte, die gesellschaftliche und soziale Gegensätze verdeutlichen, in Teilbereichen des
Franchises unberührt bleiben, an anderer Stelle jedoch stark beschnitten werden. Dieser Eindruck verfestigt sich ob der Worte von Gail
Tiden, einem der leitenden Angestellten von Nintendo of America, der die Lokalisierung der „Pokémon“-Animationsserie und –Kinofilme betreut:
We try hard to keep American children from thinking of Pokémon as being from Japan. This requires localization, not to hide the
fact that Pokémon is made in Japan, but to convey the impression that these are global characters. Therefore, we do not want to
make Pokémon American, either. We want Pokémon to become global characters that children all over the world will find familiar.44
Es ließen sich zahlreiche weitere Fälle anführen, die dieses „Neutralisieren“ untermauern. In einer anderen Episode der Animationsserie,
in der Misty in einem Schönheitswettbewerb antritt und ihre Brüste erneut der Aufmerksamkeitspunkt sind. Einer ihrer Kontrahenten ist
James, ein Mitglied der Verbrecherbande „Team Rocket“. Diese taucht in nahezu jeder Episode auf und versucht, Pokémon zu stehlen, was
Ash und seine Freunde natürlich jedes Mal zu verhindern gedenken. James nimmt an dem Wettbewerb in einer „cross-gender“-Verkleidung mit
aufblasbaren Brüsten teil und macht sich über die Größe der Brüste von Misty lustig (siehe Abbildung 10). Diese Episode wurde in den
USA erst gar nicht ausgestrahlt. Sowohl die Animationsserie als auch die Kinofilme besitzen eine weitaus „poppigere“ Sound-Untermalung
als das japanische Original, das weitaus orchestraler ist. Sehr treffend beschreibt diese Distinktion meines Erachtens Roland Kelts in
seinem investigativen Werk „Japanamerica“: “Japan is an archipelago of confined spaces, and its strict social formalities have evolved
to help millions survive in them. America has big skies, vast plains, easy smiles, and hearty pats on the back.”45 Es ist eben diese
japanische Reserviertheit, die das Verlangen danach antreibt, andere Identitäten zu erforschen und Grenzen auszutesten – und zwar
vorzugsweise in der virtuellen Welt bzw. via populärer Medien. Das „Pokémon“-Franchise, so Kelts, habe Spielzeug und Videospiele als
„underlying text“ eingesetzt und mit einem „Japanizer“ unterfüttert, sodass Rezipienten „the very character of a distinct cultural
style“ absorbieren könnten.46 In den beiden Fällen der Animationsserie und auch des Soundtracks des Kinofilms haben Nintendo of America
und 4kids, so möchte ich vorschlagen, jedoch vielmehr einen „Neutralizer“ eingesetzt und das Endprodukt dadurch stark „glocalized“.
Und denken wir hier nochmal an Mirrlees zurück. Eindeutig unterzog man hier eine „national story“ einer Modifikation, weil man die
Präferenzen und die kulturelle Akzeptanz der Rezipientengruppen als grundverschieden erachtet. Wodurch sich solche unterschiedlichen
kulturellen Differenzen genau kennzeichnen, soll nun unter der Berücksichtigung der Erkenntnisse Shimadas Beachtung finden.
Quellen
23Shimada, Shingo: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Campus Verlag. Frankfurt am Main; New York, USA 1994. Seite 25.
24Buckingham, David; Sefton-Greene, Julian: Structure, Agency, and Pedagogy in Children’s Media Culture. In: Tobin, Joseph (Herausgeber): Pikachu’s Global Adventure. The Rise and Fall of Pokémon.
25Ebenda. Seite 23.
26Die Möglichkeit, die “Pokémon”-Animationsserie über die Website zu rezipieren, sollte nicht unterschätzt werden. Die „Pokémon“-Filme sind in vielen Ländern auf Datenträgern verfügbar, das Angebot an DVDs oder Blu-rays mit Episoden der Animationsserie ist jedoch vergleichsweise spärlich. Selbst in Deutschland, wo die Synchronisierung von Filmen und Serien einen sehr hohen Stellenwert genießt, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt (18.07.2016) keine DVD-Boxen mit kompletten Staffeln der Animationsserie erhältlich.
27Jenkins, Henry; Ford, Sam; Green, Joshua: Spreadable Media. Creating Value and Meaning in a Networked Culture. New York; London: New York University Press 2013. Seite 293.
28Ebenda, Seite 114 und 294.
29Dass solche Vorhaben gelingen können, beweist etwa die Online-Videoplattform „Hulu“. Diese war ursprünglich nur in den USA verfügbar und bot dort eigenes Videomaterial über einen kostenfreien, werbefinanzierten Zugang sowie ein Bezahlmodell an. Mittlerweile offeriert Hulu zwei verschiedene Preismodelle, Videomaterial von mehreren Partnern und ist in anderen Teilen der Welt (unter anderem Südamerika und Japan) verfügbar. Siehe auch: http://www.cnet.com/news/hulu-closes-in-on-9-million-paid-subscribers/ Abgerufen am 05.08.2016.
30Ebenda. Seite 294 bis 295.
31http://disneyxd.disney.pl/ Abgerufen am 18.07.2016.
32http://www.tv4.se/pokemon/klipp Abgerufen am 18.07.2016.
33http://www.tv4play.se/barn/pokemon?video_id=3176950 Abgerufen am 18.07.2016.
34http://www.pokemony.com/pokemon-28-Typy-Pokemon Abgerufen am 18.07.2016
35Aus meiner Sicht wäre es darüber hinaus sehr spannend, zu ermitteln, wie Rezipienten mit den englischen Namen der Pokémon umgehen. Ob beispielsweise spanische und schwedische Fans den Namen Slowpoke auch tatsächlich auf englische Art aussprechen, oder aber Slowpoke mit der ihrem Land typischen Sprechweise versehen, wäre sicherlich eine wissenschaftliche Studie wert. Die Vermutung liegt nah, dass Rezipienten hier unterschiedlicher Meinung sein dürften und ein „Namens-Konsens“ nicht existiert. Leider würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, eine solche Betrachtung an dieser Stelle vorzunehmen.
36https://mynintendonews.com/2015/10/02/from-next-year-nintendo-will-no-longer-release-games-in-greece/ Abgerufen am 18.07.2016.
37https://www.cdmedia.gr/documents/nintendo-appoints-a-new-distributor-in-greece-3890.htm Abgerufen am 18.07.2016.
38http://bulbapedia.bulbagarden.net/wiki/Pok%C3%A9mon_Adventures#International_translations Abgerufen am 18.07.2016.
39Craig, Timothy J.: Introduction. In: Craig, Timothy J. (Herausgeber): Japan Pop! Inside the World of Japanese Popular Culture. M. E. Sharpe. Armonk, New York, USA; London, England 2000. Seite drei bis 23. Seite zwölf.
40Ebenda. Seite zwölf.
41Ebenda. Seite 13.
42MacWilliams, Mark Wheeler: Japanese Comics and Religion. Osamu Tezuka’s Story of the Buddha. In: Craig, Timothy J. (Herausgeber): Japan Pop! Inside the World of Japanese Popular Culture. M. E. Sharpe. Armonk, New York, USA; London, England 2000. Seite 109 bis 137. Seite 134 bis 135.
43Gössmann, Hilaria M.: New Role Models for Men and Women? Gender in Japanese TV Dramas. In: Craig, Timothy J. (Herausgeber): Japan Pop! Inside the World of Japanese Popular Culture. M. E. Sharpe. Armonk, New York, USA; London, England 2000. Seite 207 bis 221. Seite 212.
44Zitiert in: Iwabuchi, Koichi: How „Japanese“ Is Pokémon? In: Tobin, Joseph (Herausgeber): Pikachu’s Global Adventure. The Rise and Fall of Pokémon. Duke University Press. Durham und London, England 2004. Seite 53 bis 79. Seite 69.
45Kelts, Roland: Japanamerica. How Japanese Pop Culture Has Invaded the U.S. Palgrave Macmillan. New York, USA; Basingstoke, England 2006. Seite 23.
46Ebenda. Seite 90.