Masterarbeit - Abschnitt 3
Inhalt
- „Das Fremde“ und seine facettenreiche Wirkweise als kulturelles Äquivalent
- „Das Fremde“ in seiner kulturell-historischen Entwicklung
- Macht und „biopower“ moderner Medien
- Arbeit, Macht und Kräfte im „Pokémon“-Franchise
- Die Distribution von „Event-Pokémon“ als „biopower“
- Die Entität „Zeit“: Wenn sich Mythologie und Rationalität verquicken
- Quellen
„Das Fremde“ und seine facettenreiche Wirkweise als kulturelles Äquivalent
„Das Fremde“ in seiner kulturell-historischen Entwicklung
Shimada definiert den Begriff des „Fremden“ in seiner Arbeit als „eine strategische Kategorie zur Artikulation des
eigenen Standpunktes“47. Dadurch ergebe sich überhaupt erst die Fremdheit des Anderen. Er zieht eine dichotomische
Grenze zwischen der diskursiven Konstruktion des Fremden (die nicht-westliche Welt) und des Eigenen (die westliche Welt).48
Shimada intendiert weder die Einnahme eines universalistischen noch eines kulturrelativistischen Standpunktes, sondern
vielmehr eine analytische Herangehensweise, die die entscheidenden Grenzen klar aufzeigt, der es an kritischer Selbstreflexion
jedoch nicht mangelt:
Ich versuche, von außen kommend in die Kultur einzudringen, von der das wissenschaftliche ‘Wir‘ ausgeht. Dabei bedeutet
diese Strategie nicht, daß ich von außen kommend ein völlig neues ‘Wir‘ aufstellen will. […] [D]ie Absicht der Strategie
[liegt] in der Grenzüberschreitung, durch die das Selbstverständnis des wissenschaftlichen ‘Wir‘ reflektiert und die
Konstruiertheit der Grenzen zwischen dem ‘Uns‘ und dem ‘Fremden‘ deutlich wird. Dies bedeutet zugleich, daß ich mich
als das schreibende und forschende Subjekt ständig in Frage stellen muß.49
Er betont, wie wichtig für ihn die „Doppelperspektivität“ sei: nur in der Erfahrung des Bruches läge die Chance,
eine neue Perspektivität zu erzeugen.50 Als hervorstechend erscheint mir, dass Shimada anschließend dem Adjektiv
„menschlich“ eine besondere Rolle zuordnet und es als erforderlich sieht, diesen Begriff radikal in Frage zu stellen.
Denn „Menschlichkeit“ impliziere innerhalb eines Kulturvergleiches etwas ganz Entscheidendes:
Der Begriff des ‘Menschlichen‘ ist keineswegs eine bloße Bezeichnung oder Benennung, sondern in höchstem Maße in
das jeweilige Machtverhältnis eingebunden. Ein kulturvergleichender Diskurs ist daher, auf welcher abstrakten Metaebene
er auch immer stehen mag, ein Ausdruck des gegebenen Machtverhältnisses.51
Mit diesem Machtgedanken im Hinterkopf erscheint es plausibel, dass Shimada hierauf das Fremde in einem wirtschaftlichen
Sinne nachverfolgt. Dadurch, dass sich im europäischen Mittelalter ein städtischer Markt mit eigener Geldwirtschaft
etablierte, habe jeder Unbekannte den Status eines potenziellen Handelspartners angenommen.52 Dabei sei es „im Grunde
irrelevant, woher der Fremde stammt, Hauptsache ist, daß er die Regeln der Geldwirtschaft beherrscht“53. Referierend
auf den deutschen Soziologen Tönnies spricht Shimada von einem Verlagerungsprozess von der „Gemeinschaft“ zur
„Gesellschaft“, durch den eine neue Öffentlichkeitsform entstehe. Diese Gesellschaft sei nicht mehr länger etwas,
das einem bestens vertraut sei, sondern werde als fremd erfahren. Hierarchische Strukturen, die auf Gabe und Gegengabe
beruhten und die Entfaltung eines solchen Marktes verhinderten, verlören dadurch an Bedeutung.54 Ein fremdes, oder
vielleicht noch besser „ein von allen individuellen Zügen gereinigtes Individuum“ (ganz in der Tradition der Lehren
von Karl Marx) sei das, was ein progressiver Markt verlange.55
Eine solche Entwicklung fand in Japan allerdings nicht statt, wie Shimada und auch J. Taggart Murphy in betonen.
Mit Ende des 13. Jahrhunderts habe Japan, so Murphy, zunehmend die Form eines Landes angenommen, „where real power
was increasingly exercised by regional war lords rather than a central court or courts“56. Hier liegen auch die
Wurzeln für Japans so ambiges Verhältnis zum Westen, und dies auf allen Ebenen von der Kultur über Kommunikation
bis hin zur Wirtschaft. Obgleich man im 14. Jahrhundert das erste Mal Menschen aus einem anderen Land, und zwar
portugiesischen Seefahrern, Zutritt gewährte, begegnete man ihnen sehr zweischneidig. Japan integrierte und adaptierte
portugiesische Wörter, eine spezielle Art des Frittierens von Speisen („Tempura“) und zeigte sich fasziniert von den
portugiesischen Feuerwaffen, die man schon bald besser herzustellen vermochte, als die Portugiesen selbst.57
Dennoch sah man von der Annahme einer „progressiven“, weltoffenen Perspektive eindeutig ab. Nur wenige Ausländer
durften sich in Japan, wenn überhaupt, in streng abgegrenzten Bereichen aufhalten, die Weitergabe der japanischen
Sprache seitens der Bevölkerung wurde mit harschen Strafen verfolgt58 und die generelle Struktur Japans verblieb in
einem feudalistisch-hierarchischen Sinne. Dieses hierarchische System blieb von Beginn der Tokugawa-Shogunate im Jahre
1192 über die Edo-Periode (ab 1602) bis zum Jahre 1867 erhalten, als Japan sich mit Einsetzen der Meiji-Periode (stark
nach Vorbild des deutschen Kaiserreichs) zu einem offeneren Weltbild bekannte. Doch der „thick curtain“59, den Japan
insbesondere während der Edo-Periode um sich schlug und in mehr als zwei Jahrhunderten isolierter nationalstaatlicher
Existenz ohne Kriegsgeschehen resultierte, brachte eine ganz eigene wirtschaftliche Entwicklung hervor. Eine
Entwicklung, die Murphy als „pervasive repression“ beschreibt, die im Sinne der feudalistischen Herrscher bestens
funktionierte: Die Klassen wurden zwar wirtschaftlich ausgebeutet, genossen aber zugleich eine gesicherte Existenz,
die mit den prekären Friedensverhältnissen in Europa in keiner Weise vergleichbar war.60 Es ist nun nicht nur interessant,
dass Murphy in diesem kulturellen Kondensat „the birth of what was arguably the world’s first mass culture“61 erkennt.
Erneut begegnen uns hier Gegensätze, die für das Fremde/Eigene und für das Zaghafte/Rigorose der „Japanhaftigkeit“
verantwortlich sind. Die Radikalität des japanischen Staates verhinderte damals die transnationale Ausbreitung einer
Massenkultur, die sich heute jedoch als Populärkultur auf der ganzen Welt (wie diese Arbeit eingehend untersucht)
einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Japan „schockfrostete“ seine wirtschaftliche Entwicklung aufgrund seiner
„hierarchy of power relations“:
In an example of dialectic forces at work, that very stability fostered developments that over time undermined it
– in particular, the coming of great cities and the new classes of wealth-holders they spawned. This contradiction might
eventually have brought down the curtain on the Shogunate, West or no West. But it was Tokugawa autarky that helped
pull the rope, particularly given the contrast with what was going on in Europe, where international trade acted as
a great spur to technological and military advances.62
Der Leser mag sich an dieser Stelle womöglich fragen, warum ich so eingehend auf diese längst vergangenen Geschehnisse
eingehe. Das liegt daran, dass die damaligen politischen Bemühungen laut Murphy in Japan noch heute spürbar seien:
[…] [In] genius […] the Tokugawa authorities co-opted potential sources of opposition, a feature of Japan’s political
culture that survived the demise of the Shogunate and remains critically important right into the present day. The
authorities were not only aware of the growing financial leverage the merchant class had over the samurai and daimyo,
it also troubled them since it contravened theirs sense of the proper order of things. But rather than attempt to
interfere directly in merchant affairs, thus potentially provoking the kinds of reactions to absolutist power that
served as the crucible for the formation of the European bourgeoisie, shogunal authorities largely left the merchants
alone – provided, and this is the key point, that merchant guilds and other relevant institutions exercised self-policing.
The self-policing served to keep merchant activities within implicit bounds that precluded open challenge to existing
power relations. Unable to appeal to ideas such as the inviolability and sanctity of property rights, the merchants
lacked a conceptual apparatus that might have allowed them to contemplate any such challenge on their own.63
Folglich entwickelten sich so in Japan keine (bürgerlichen) Revolutionskräfte, wie sie damals etwa in Europa entstanden:
„The merchants thus ended up as tacit allies of the shogunal order; their own prosperity was completely wrapped up in its
survival.“64. Die globale Entfaltung japanischer Populärkultur und die Wurzeln wirtschaftlicher oppositionaler Kräfte
greifen aus diesem Grunde auf die Gegenwart über. Dennoch leidet die Gegenwart unter den „Fesseln“ der japanischen
Geschichte (nicht zuletzt deshalb trägt Murphys Buch den Titel „Japan and the Shackles of the Past“).
Macht und „biopower“ moderner Medien
Dieses Dreieck aus Menschlichkeit, konsumistischer Marktdominanz und oppositionellen Kräften findet sich in der Sichtweise
von Dyer-Witheford und de Peuter wieder – und befindet sich dadurch inmitten der Medienwissenschaften. In „Games of Empire:
Global Capitalism and Video Games“ schlagen die Autoren vor, das Medium des Videospiels als ein „paradigmatic media of Empire“65
zu interpretieren. Aufbauend auf Hardt und Negri sowie (erneut) Karl Marx speise sich dieses „Empire“-System aus den Regeln
des Weltmarktes und „governance by global capitalism“66. Verkürzt gesagt versammle es, speziell übertragen auf das Medium des
Videospiels, die folgenden Eigenschaften:
Empire is flush with power and wealth, yet close to chaos. This is the context in which we place virtual games.
[…] The games industry has pioneered methods of accumulation based on intellectual property rights, cognitive
exploitation, cultural hybridization, transcontinentally subordinated dirty work, and world-marketed commodities.
Game making blurs the lines between work and play, production and consumption, voluntary activity and precarious
exploitation, in a way that typifies the boundless exercise of biopower.67
„Biopower” ist hierbei das entscheidende Stichwort, das mich zum “Pokémon“-Franchise herüberleiten lässt.
Das „biopower“-Konzept stammt vom französischen Kulturwissenschaftler Michel Foucault. Dieses sei ein disziplinierendes
Konzept, welches sich im Zuge des Niedergangs feudaler Systeme etwa im 18. Jahrhundert etabliert hätte. Der „biopower“ sei
eine kapitalistische Komponente essenziell, die dazu fähig sei, das soziale Leben zu nähren, es aber ebenso einzudämmen:
„The exercise of biopower makes possible the adjustment of the accumulation of men to that of capital, the joining of the
growth of human groups to the expansion of productive forces and the differential allocation of profit.”68 Aus dieser Perspektive,
so Dyer-Whiteford und de Peuter, schöpfe „biopower” aus dem sozialen Leben und umfasse zusammen mit dem „Empire“-System die
sogenannte „immaterial labor“. „Immaterial labor“ betreffe die „less-tangible symbolic and social dimensions of commodities“
und verkörpere „the activity that advanced capital depends on its most dynamic and strategic sectors“.69 „Biopower” und
„immaterial labor” spielen sich in der materiellen und der virtuellen Welt ab: Beispiele der materiellen Welt sind die
Kolonialisierung und der damit verbundene Sklavenhandel sowie die aktuelle Erschließung von Landschaften in Asien,
Lateinamerika etc. im Interesse der Agrarwirtschaft.70 Auf der virtuellen Ebene ließen sich laut Dyer-Whiteford und de
Peuter die Konzepte am besten anhand von MMOs71 nachzeichnen. Sie seien perfekte „biopower“-Konglomerate: Sie böten üppige
und fantasiereiche Welten für die Spieler, sind zugleich aber von Determinanten aus der materiellen Welt (dem „real life
apparatus“) abhängig – unter anderem von der Systemadministration der Entwickler, den Abonnement-Zahlungen der Spieler etc..72
Das Virtuelle und das Echte, ebenso aber auch das vermeintliche „Unten“ (die Spieler) und „Oben“ (die Entwickler) stehen sich
hier direkt gegenüber und interferieren. Entwickler bzw. Publisher sind die Kreatoren, Besitzer und Regierenden der
virtuellen MMO-Welten, die Spieler ihre stets nach geordneten Strukturen und Neuem fordernden Bewohner.
Arbeit, Macht und Kräfte im „Pokémon“-Franchise
Ich möchte vorschlagen, dass sich diese Konzepte auf das „Pokémon“-Franchise adäquat übertragen lassen. Nicht nur, weil
auch Dyer-Whiteford und de Peuter in vielerlei Hinsicht auf die japanische Kultur und Wirtschaft hinweisen. Die Ironie der
Beziehungen zwischen Japan und den USA nach Ende des Zweiten Weltkrieges sei, dass die besiegte Kultur eben darin brillierte,
die technologisch-kulturellen Innovationen des Siegers zu übernehmen.73 Die Manga-Kultur stelle ein perfektes Muster für
digitale Spiele dar: fantasiereiche Welten voller Chimäre, übernatürlicher Hybriden und einem Umfang, der vom Kindischen
über das dämonisch Brutale bis hin zum Unschuldigen reiche.74 Japanische Videospielkonzerne hätten auf der Mangakultur basierte
Figuren zu den zentralen Säulen von ambitionierten Marketing- und Promotionsbemühungen gemacht. So entwickelte sich das
Videospiel zum ersten Medium, das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die US-dominierte Hegemonie in Richtung einer „more
complex, diffuse capitalist order“ dezentrierte.75 Die „polymorphous mutability“ der Mangakultur formte Japans Videospiele zum
„first transnationalised expression of immaterial labor“.76
All diese Elemente, so denke ich, sind den „Pokémon“-Spielen (und vielen anderen Franchisekomponenten) inhärent: Sie sind
einerseits hochgradig kommerziell, propagieren das gegenseitige Bekämpfen und eine Akkumulation von Macht, die sich in einer
gewissen Reputation und der Aneignung von immer mehr Pokémon niederschlägt. Die Spiele sprechen zuvorderst Kinder an und ziehen
sie in ihre fantasievollen Welten, in denen multiple Mischwesen zentral sind. Die Brutalität hält sich dennoch in Grenzen,
denn das Versorgen und der Aufbau von Freundschaften werden mindestens ebenso stark betont. Zusammengefasst spiegelt sich die
soziale und kommerzielle Existenz des „Pokémon“-Franchises aus der materiellen Welt in den Inhalten der Franchisekomponenten
wider – und dies auf einer kulturell sehr komplexen Ebene.
Die Distribution von „Event-Pokémon“ als „biopower“
Nachvollziehen lässt sich dies an den sogenannten „Event-Pokémon“. Dabei handelt es sich um spezielle Pokémon - manchmal
divergieren sie optisch, manchmal verfügen sie über Attacken oder Artefakte, die die „Standard“-Version des Pokémon nicht
kennt. Event-Pokémon sind Exemplare, die sich im Spiel nicht auf reguläre Weise einfangen lassen und somit auch nicht im
standardmäßigen Programmcode des Spiels eingeschrieben sind. Stattdessen ist eine „Freischaltung“ nötig. Während dies in
den älteren Ausgaben der Spiele per Infrarotschnittstelle oder mittels eines Übertragungskabels geschah, überträgt Nintendo
Event-Pokémon mittlerweile, indem man die Handhelds in ein Drahtlosnetzwerk integriert. Im Rahmen von Veranstaltungen,
beispielsweise auf Videospiel-Messen, Pokémon-Sammelkarten-Turnieren oder den sogenannten „Pokémon Days“, können Spieler
Event-Pokémon erhalten. In vielen Fällen können Spieler Event-Pokémon auch ausschließlich in ausgewählten Filialen
bestimmter Einzelhändler (Toys“R“Us, GameStop, Best Buy etc.) oder von zu Hause mittels der Nennung eines Online-Passworts
empfangen.
Das „Oben“ (in diesem Falle Nintendo) überträgt ein virtuelles Gut Richtung „Unten“ (zu den Spielern), wodurch Hindernisse
aus der materiellen Welt eigentlich negiert werden müssten bzw. ignoriert werden könnten. Doch Einschränkungen ergeben
sich, indem Nintendo den Zugang zu den Event-Pokémon zeitlich, räumlich, ja sogar im Sinne der „Macht“ beschneidet. Die
Übertragung von Event-Pokémon ist aus dieser Perspektive eine Form der „biopower“, bei der Zeit und Raum entscheidende
Determinanten darstellen. So knüpft Nintendo die Verteilung mancher Event-Pokémon beispielsweise daran, dass diese nur
diejenigen Spieler erhalten dürfen, die bei einem Turnier77 einen der vorderen Plätze belegen. Das Herunterladen in
bestimmten Filialen von Einzelhandelsketten reduziert sich mal auf einzelne Staaten, mal auf einzelne Städte. Auch
der Empfang von Pokémon mittels der Online-Passwörter ist eine Übertragungsoption, die in der Regel auf ein bestimmtes
Gebiet beschränkt ist. Als Beispiel sei hier das Feuer-Pokémon „Glurak“ genannt, welches Nintendo deutschen Spielern
von März bis Juli 2015 in ausgewählten „GameStop“-Filialen anbot.78 Das Erscheinungsbild dieses Gluraks divergiert vom
üblichen Erscheinungsbild und stellt ein sogenanntes „Shiny Pokémon“ dar. Schon im Dezember 2014 führte Nintendo eine
ähnliche Aktion durch, allerdings im „Pokémon Center Mega Tokyo“, einem „Pokémon“-Einkaufszentrum in der japanischen
Hauptstadt. Ich denke, es wird hierbei eindeutig: Event-Pokémon sind ein typisches „biopower“-Konstrukt. Ein
fantasievolles Gut, das eine offizielle Stelle nach dem „top-down“-Prinzip offeriert und ob zeitlicher und
zugangstechnischer Einschnitte auf künstlichem Wege zu einem raren Produkt formt. Glurak ist auf eine Weise ein
kommerzielles, globalisiertes Objekt der Begierde, doch zugleich aus einer Perspektive des Zugriffs „glocalized“.
Die Entität „Zeit“: Wenn sich Mythologie und Rationalität verquicken
Auch die Entität der Zeit scheint mir in „Pokémon“ auf betrachtenswerte Weise zwischen einer explizit westlichen und
japanischen Sicht zu oszillieren. Folgt man Shimada, so habe es „im japanischen Denken die Zeit nicht als einen
abstrakten Gegenstand der Betrachtung in der substantivischen Form“ gegeben. Erst mit Einkehr der okzidentalen
Wissenschaften habe sich der Begriff als ein eigener Gegenstand der Betrachtung etabliert.79 Unter Berufung auf
Hirano zeigt Shimada auf, inwiefern die japanische Kultur Zeit einst als etwas Mythologisches wahrnahm. Nach
Ansicht japanischer Landwirte „[stieg] der Gott des Berges im Frühling den Berg herab und wird zu dem Gott der
Reisfelder, der bei der Feldarbeit stets anwesend ist. Nach der Ernte kehrt er zum Berg zurück, um von der Höhe
herab über das Dorf zu walten.“80 Mit dieser Darstellung im Hinterkopf, so Shimada, träten „die Charakteristika
der Konstruiertheit der zyklischen Zeitvorstellung“ hervor81 Erst mit der Meiji-Periode Ende des 19. Jahrhunderts
habe Japan freiwillig das westliche Zeitkonzept mit allgemein gültigen Uhrzeiten und der Siebentagewoche übernommen.82
Dennoch sei noch heute ein paradoxes Festhalten an mythologischen Zeitvorstellungen (Mond-Sonne-Zyklen,
Tierkreiszeichen etc.) gegeben, „wenn auch kaum jemand öffentlich zugibt, daß er sich daran hält oder gar
daran glaubt. Doch an bestimmten Verhaltensweisen wird sichtbar, daß man dennoch daran irgendwie festhält.“83 Erneut
sind es die „Shackles of the Past“ die auf Japans Gegenwart einwirken. Mit „bestimmten Verhaltensweisen“ meint Shimada
zum Beispiel den Glauben daran, dass sich bestimmte Tage ob der Sternenkonstellation für gewisse Anlässe (Hochzeiten,
Beerdigungen etc.) am besten eigneten.84
Ich möchte vorschlagen, dass eine Vermischung von der rationalen (westlichen) und mythologisch-naturalistischen (japanischen)
Zeitvorstellung den „Pokémon“-Spielen immanent ist. Seit der zweiten Generation der Hauptreihe ist es fester Bestandteil
des Spiels, die spielinterne Zeit an die Uhrzeit in der echten Welt anzupassen.85 Spielt der Spieler also beispielsweise um
19.00 Uhr an einem Dienstagabend, herrschen diese Uhrzeit und dieses Datum auch in der Pokémon-Welt. Die Konsequenzen
sind eminent: Einkaufscenter haben nur zu bestimmten Uhrzeiten geöffnet, das Reisen per Schiff oder Zug ist an feste
Abfahrtszeiten gekoppelt. Teilweise erscheinen gewisse Personen, von denen der Spieler seltene Artefakte oder Informationen
erhält, nur zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Wochentag. Dies ist eindeutig die rationale Seite der Entität
„Zeit“. Interessanterweise greift diese rationale Zeitlichkeit auf die Pokémon über. Viele wilde Pokémon tauchen nur während
bestimmter Tagesabschnitte auf, sodass Pokémon wie nacht-/tagaktive Tiere aus unserer realen Fauna agieren. Teilweise ändern
Pokémon sogar je nach Jahreszeit86 ihr Erscheinungsbild oder sind nur während einer bestimmten Jahreszeit zu finden. Ein
typisches Beispiel: Sind Umgebungen verschneit, weil Winter herrscht, tauchen überdurchschnittlich viele Pokémon des Typs „Eis“ auf.
In einigen Fällen beeinflusst die Zeit gar die Entwicklung eines Pokémon. Üblicherweise vollzieht sich eine Entwicklung dann,
wenn ein Pokémon einen bestimmten Erfahrungslevel erreicht. Es verändert seine Form und verfügt schlagartig über stark
erhöhte Statuswerte – es ist in gewisser Weise eine Art der Metamorphose: das Pokémon wird „erwachsen“. Insofern ist die
Weiterentwicklung eines Pokémon ein rationaler Prozess, denn er ist ob der Levelgrenze vorhersehbar bzw. im Programmcode
eingeschrieben. Nun existieren in den Spielen jedoch Pokémon, die sich beispielsweise nur dann zu einer bestimmten Form
weiterentwickeln, wenn ein Levelanstieg während einer bestimmten Jahres- und/oder Tageszeit erfolgt. Als noch schwammiger
erweist sich eine Entwicklungsart, die von der Beziehung zum Trainer abhängt. Gewisse Pokémon entwickeln sich nur dann,
wenn sie sich „wohlfühlen“. Rational lässt sich dies vom Trainer in keiner Weise prognostizieren. Das Spiel lässt dem Spieler
insofern nur eine einzige Chance: Lediglich zeitintensive Pflege des Pokémon (das Ausrüsten mit bestimmten Artefakten, das
Füttern mit bestimmten Präparaten und vor allem ein Bedachtsein darauf, dass das Pokémon während des Kämpfens nie das
Bewusstsein verliert) lässt dieses „Wohlgefühl“ zu. Irgendwann ist es erreicht und das Pokémon entwickelt sich – doch wie
gesagt, mangelt es diesem mühsamen Vorgang an jeglicher Berechenbarkeit.
Aus dieser Perspektive ließe sich das „Spielen“ als eine Art der Arbeit, als „immaterial labor“, interpretieren.
Der Spieler ist in seinem Konsum, in seiner Freizeit, einer von der Zeit eingebrachten Macht ausgesetzt. Shimada
bemerkt, dass sich ein wichtiger Aspekt der japanischen Konnotation des Konzeptes „Freizeit“ daraus speist, dass
„offensichtlich ein Bedürfnis bei den Mitgliedern der japanischen Gesellschaft besteht, daß ihre von der Arbeit
oder vom Unterricht befreite Zeit von außen geregelt und institutionalisiert wird.“87 Während die Freizeit im Westen
eindeutig ein „Gegenentwurf“ zur institutionalisierten Disziplinarzeit sei, würde man private Zeit in Japan nicht
als substantivistisch erfahren88: „Negativ ausgedrückt bedeutet dies, daß der einzelne der vom Westen übernommenen
Disziplinarzeit auf der Oberfläche der Betrachtung machtlos gegenüber steht […].“89 Westliche und japanische Spieler
teilen diese Erfahrung im Moment der Auseinandersetzung mit dem Videospiel.
Quellen
47Shimada, Shingo: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Campus Verlag. Frankfurt am Main; New York, USA 1994. Seite 34.
48Ebenda. Seite 34.
49Ebenda. Seite 36 bis 37.
50Ebenda. Seite 27.
51Ebenda. Seite 27 bis 28.
52Ebenda. Seite 47.
53Ebenda. Seite 47.
54Ebenda. Seite 47.
55Ebenda. Seite 47.
56Murphy, R. Taggart: Japan and the Shackles of the Past. Oxford University Press. New York, USA 2014. Seite 20.
57Ebenda. Seite 27.
58De Mente, Boyé Lafayette: Japan Unmasked. The Character & Culture of the Japanese. Tuttle Publishing. Tokio, Japan; North Clarendon, Vermont, USA; Singapur 2005. Seite 25.
59Murphy, R. Taggart: Japan and the Shackles of the Past. Oxford University Press. New York, USA 2014. Seite 31.
60Ebenda. Seite 41.
61Ebenda. Seite 45.
62Ebenda. Seite 53.
63Ebenda. Seite 55.
64Ebenda. Seite 57.
65Dyer-Whiteford, Nick; de Peuter, Greig: Games of Empire. Global Capitalism and Video Games. The University of Minnesota Press. Minneapolis, Minnesota, USA 2009. Einleitungskapitel, Seite XV.
66Ebenda. Einleitungskapitel, Seite XX.
67Ebenda. Einleitungskaptiel, Seite xxiv und xxix.
68Ebenda. Seite 124.
69Ebenda. Seite vier.
70Ebenda. Seite 125.
71MMOs (Massively Multiplayer Online Games) sind Videospiele, welche auf einer sich im konstanten Wandel befindlichen Online-Spielumgebung und der Zusammenarbeit der Spieler basieren. Vereint in sogenannten Gilden wird erforscht, gekämpft und stets die Verbesserung des eigenen virtuellen Charakters verfolgt.
72Dyer-Whiteford, Nick; de Peuter, Greig: Games of Empire. Global Capitalism and Video Games. The University of Minnesota Press. Minneapolis, Minnesota, USA 2009. Einleitungskapitel, Seite 126.
73Ebenda. Seite 15.
74Ebenda. Seite 15.
75Ebenda. Seite 17.
76Ebenda. Seite 18.
77„Pokémon“-Turniere werden sowohl mittels des Kämpfens per Sammelkartenspiel als auch des Kämpfens per Videospiel ausgetragen. Auch hieran zeigen sich die synthetischen Ankerpunkte des Marketing: Genauso, wie ein Event-Pokémon aus dem Videospiel der erste Preis eines Sammelkartenspiel-Turniers sein kann, vermag das rare Exemplar einer Sammelkarte der Preis eines Turniers zu sein, bei dem das aktuelle Videospiel als Kampfmedium dient.
78https://www.bisaboard.de/kalender/index.php/Event/1717-Fr%C3%BChling-2015-Glurak-X-Y-OR-AS/ Abgerufen am 24.07.2016.
79Shimada, Shingo: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Campus Verlag. Frankfurt am Main; New York, USA 1994. Seite 80 bis 81.
80Ebenda. Seite 83.
81Ebenda. Seite 83.
82Ebenda. Seite 162.
83Ebenda. Seite 112.
84Ebenda. Seite 110.
85Natürlich kann der Spieler dies umgehen bzw. manipulieren, indem er einfach die Uhrzeit einstellt, die ihm gerade vorschwebt. Dadurch ergeben sich für ihn sehr viele Möglichkeiten, auf welche ich hier sehr gern im Detail eingehen würde, darauf aus Platzgründen aber verzichten muss.
86Hier sei angemerkt, dass sich die Jahreszeiten monatlich ändern.
87Shimada, Shingo: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Campus Verlag. Frankfurt am Main; New York, USA 1994. Seite 120.
88Ebenda. Seite 121.
89Ebenda. Seite 121.