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Masterarbeit - Abschnitt 5

Nostalgie und Selbstparodie: Das Spiel mit der eigenen Geschichte

Inhaltliches Reminiszieren und das Setzen neuer Reizpunkte in den „Pokémon“-Videospielen

In seiner Analyse des TMNT-Franchises betont Rosenbaum immer wieder den Faktor „Nostalgie“. Das Franchise verfüge über ein solch reichhaltiges Repertoire, dass es sich auf fruchtbare Weise immer wieder selbst aufgreifen könne:

[…] [T]he nostalgia around Ninja Turtles works in quite a different way than it does for lots of other cultural artifacts – it’s not only that feeling you get remembering what it was like to wake up one Saturday morning in 1990 to find that you had two brand new episodes of Turtles coming at you instead of just one. It’s that echo of everything you know about the whole history of Turtles in every manifestation of TMNT. Insider your head, there’s a map […], a diagram of the Turtleverse that lights up […] or recall[s] the timeless aphorism that ‘Turtles fight with honor’.128

So banal es klingen mag, doch muss man sich diesen Aspekt eben bewusst machen: Nostalgie bedingt, dass Zeit vergeht. Franchises können erst dann ihre eigene Geschichte aufgreifen und ein Nostalgiegefühl erzeugen, wenn sie über einen gewissen Zeitraum eine Zugehörigkeit zur (Populär-)Kultur genossen haben. Denn erst dann existiert einerseits genügend inhaltliches und diverses Material, andererseits aber auch ein Netz an altersmäßig unterschiedlichen Fangruppen, die das Material eines bestimmten Zeitpunktes als für sie nostalgisch evaluieren. Die Turtles bereichern die Popkultur bereits seit 1984, also seit über 30 Jahren, während das „Pokémon“-Franchise in diesem Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen feiert. Ich möchte behaupten, dass das „Pokémon“-Franchise gerade ein Bewusstsein für den Wert seiner eigenen Nostalgie entwickelt und dieser mittlerweile auch im kommerziellen Sinne seine Entfaltung findet. Außerdem zehrt das „Pokémon“-Franchise hier von seiner Multimedialität: Das „Pokéverse“ dürfte das „Turtleverse“ eindeutig übertrumpfen. Bereits veröffentlichte Videospiele mit Bonusmaterial anzureichern und daraufhin erneut zu veröffentlichen, ist in der Videospielindustrie mittlerweile ein beliebtes Vorgehen.129 Schon knapp fünf Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Generation der „Pokémon“-Hauptreihe, legte Nintendo diese Editionen als „Feuerrot & Blattgrün“ (2002, Game Boy Advance, Game Freak) neu auf.130 Ähnlich verhielt es sich mit den Editionen „Gold & Silber“ (1999, Game Boy, Game Freak), die zehn Jahre später im neuen Gewand als „HeartGold & SoulSilver“ (2009, Nintendo DS, Game Freak) auf den Markt kamen. Zwei Faktoren sind es, die Nintendo zum Nutznießer dieses Entschlusses machten. Zum einen ist es ein vergleichsweise geringer Aufwand, ein bereits veröffentlichtes Spiel für ein anderes System umzusetzen. Zum anderen war aufgrund der Erfolge der jeweiligen Originalversionen die Chance groß, mit den Neuauflagen an diesen kommerziellen Erfolg anzuknüpfen (was auch eintrat131). Das Franchise profitiert hier eindeutig von der Zentralität des Medienformates Videospiel, denn ob dessen Interaktivität, so möchte ich vorschlagen, eignet es sich umso mehr dazu, sinnvoll angereichert zu werden. In „HeartGold & SoulSilver“ integrierte Nintendo beispielsweise neue Schauplätze namens „Safari Zone“, „Kampfzone“ und „Pokéathlon“.132 In diesen ist es den Spielern unter anderem möglich, zusätzliche Kämpfe auszutragen und seltene Pokémon zu fangen, die in den Originalversionen nicht existieren. Teilweise greifen Remakes auch die eigene Geschichte der Hauptabenteuer auf. Erreicht der Spieler bestimmte Spielziele, erhält er die Starterpokémon133 vergangener Editionen als Geschenk. Auch das Offerieren der erwähnten Event-Pokémon ist häufig mit der Veröffentlichung eines Remakes verknüpft.134 Dezisiv ist darüber hinaus, dass sich die Anreicherungen durchaus auch im technischen Sinne entfalten können. Um Pokémon in den Versionen „Rot & Blau“ zu tauschen, benötigten Spieler ein sogenanntes Link-Kabel, um ihre Game Boys miteinander zu verbinden. „Blattgrün & Feuerrot“ lag ein „Wireless Adapter“ bei, um Pokémon kabellos von Modul zu Modul zu transferieren. Bei „HeartGold & SoulSilver“ war der Fortschritt noch gravierender, da per Nintendo DS der Pokémon-Tausch auch online möglich ist.

Das Wiederveröffentlichen auf rein digitalem Wege wickelt Nintendo über das sogenannte „Virtual Console“-System (VC) ab. VC-Titel sind in der Regel inhaltlich nicht überarbeitet. Der Anreiz, derartige Titel herunterzuladen, liegt vielmehr darin, dass sie nun nicht mehr ausschließlich über die betagte Originalhardware zugänglich sind. Seit Februar 2016 können sich europäische Spieler die allerersten „Pokémon“-Titel „Rot & Blau“ mit Nintendos aktuellem Handheld-System, dem Nintendo 3DS, herunterladen.135 Technisch verquickte man auch diese Wiederveröffentlichung mit neuen Features. So ist es möglich, die Pokémon aus diesen digitalen Versionen von „Rot & Blau“ über eine spezielle Software in aktuelle „Pokémon“-Versionen zu übertragen.136 Ferner fällt bei einem Blick auf die Promotion der Wiederveröffentlichungen auf, dass Nintendo den Faktor „Nostalgie“ dabei eindeutig betont. Die Editionen erschienen auch als sogenannte „Bundles“ vorinstalliert auf Nintendo-Handhelds. Deren Verpackungen referieren auf die Original-Covermotive der Spiele und Nintendo reicherte Werbespots mit Worten wie „Wie alles begann…“ an (siehe Abbildung 24). Remakes und Wiederveröffentlichungen von Retro-Titeln, so möchte ich vorschlagen, drücken dadurch auf mehreren Ebenen ihre Attraktivität gegenüber Konsumenten aus. Spieler, denen die Originale vertraut sind und welche das Spielen von diesen explizit als Kindheitserinnerungen konnotieren, erfreuen sich in erster Linie an einem „Reminiszieren“. Darüber hinaus tragen bewusst gesetzte Neuerungen dazu bei, dass die Spielerfahrung dennoch divergiert und etwas Neues darstellt. Jüngere Spieler entdecken in Remakes und Wiederveröffentlichungen dagegen Welten, die ihnen bisher vorenthalten waren und erforschen gewissermaßen die „Wurzeln“ der „Pokémon“-Hauptreihe. Der Konsum solcher mit Nostalgie aufgefüllter Titel wird für sie sozusagen zu einem Modus des Lernens – es ist eine Art Fortbildung innerhalb des „Pokémon“-Universums, das zum Franchise-Wissen des Individuums beiträgt.

„University of Kanto – Established 1996“: Selbstparodierende „Pokémon“-Tropen im Bereich des Merchandise

Typische Merchandisingprodukte wie Bekleidung, Taschen und physische Sammelobjekte begleiten das „Pokémon“-Franchise bereits seit dessen Anfängen in den späten 1990er-Jahren.137 Doch hat das Franchise ob seines Alters von nun gut 20 Jahren mittlerweile einen Status erlangt, der es in gewisser Weise rechtfertigt, seine eigenen Anfänge zu parodieren. Mit anderen Worten: „Pokémon“-Tropen und –Symbolen ist dank ihrer Zirkulation innerhalb der Populärkultur, dank ihres steten Wiederaufgreifens und ihrer gleichzeitigen Entdeckung durch neue Generationen von Rezipienten über einen längeren Zeitraum, erst jetzt eine Position inhärent, die einen Umgang auf einer Metaebene sinnvoll erscheinen lässt. Sie sind in den Kanon der Populärkultur eingegangen und rufen rasch eine Evokation hervor.

Dies äußert sich einerseits in Bezug auf Hauptprotagonist Ash aus der Animationsserie. Eines seiner zentralen Erkennungsmerkmale ist seine rotweiße Mütze. Online lassen sich nun nicht nur Mützen mit irgendwelchen „Pokémon“-Motiven finden, sondern auch ein solches Modell, das exakt seiner Mütze nachempfunden ist (siehe Abbildung 25). Vor allen Dingen zugunsten des Cosplayings finden sich online ferner Dinge wie ein „Pokégürtel“, ein „Trainer Kit“ und ein Set mit „Pokémon-Orden“ (siehe Abbildungen 26 bis 28). Der „Pokémon“-Fan kann sich dadurch exakt wie Ash bzw. die Spielfigur aus dem Videospiel in der materiellen Welt kleiden. Insbesondere die Orden erachte ich hier als interessant, da sie durch ihre Materialisierung ihren Status drastisch verändern. Im Spiel sind sie nicht mehr als arbiträre Zeichen: Der Spieler erhält einen Orden, wenn er einen bestimmten und besonders starken Trainer (einen „Arenaleiter“) besiegt. Daraufhin spielt das Symbol im Spielverlauf aber keine Rolle mehr. Die materialisierten Orden lassen sich nun wie „Ehrennadeln“ an der Kleidung befestigen – sie sind, in gewisser Weise, Objekt gewordene Statussymbole. Das digitale Lexikon namens „Pokédex“ sprach ich weiter oben bereits an. Im Spiel hat der Spieler darauf jederzeit Zugriff; in der Animationsserie ist des Öfteren zu sehen, wie Ash es als Device aus seiner Tasche zieht. Der Spielwarenproduzent Tomy stellt ein solches her.138 Es ist mitnichten eine physische Attrappe, sondern ein wirklich funktionsfähiges Device (siehe Abbildung 29). Es enthält Informationen zu mehreren hundert Pokémon, eine eigene Quiz-Anwendung, einen beleuchteten Bildschirm und erlaubt es dem Nutzer, ein eigenes Foto für seinen „Trainer-Pass“ zu erstellen.

Meine Recherche ergab, dass Selbstparodie und Fremdreferenzen insbesondere auf Kleidung zu finden sind, bei der fragwürdig ist, ob sie über eine offizielle „Pokémon“-Lizenz verfügt. Deren Hersteller intendieren, sich fremdes/geschütztes Material „anzueignen“ und mit einer einfallsreichen Allusion zu verquicken. So partizipieren externe Unternehmen auf finanzielle Weise an dem kommerziellen Erfolg von der Pokémon Company, Game Freak und Nintendo (wie legal diese Teilhabe ist, sei an dieser Stelle sekundär). Abbildung 30 zeigt ein T-Shirt, welches zusammen mit einer Silhouette des Pokémon Pikachu auf das Logo des Sportartikelherstellers „Puma“ anspielt. Ein anderes Shirt zeigt das Pokémon Karpador. Dieses genießt unter Fans einen fragwürdigen Kultstatus: Es verfügt lediglich über eine einzige Attacke und diese richtet keinerlei Schaden an. Simpel gesagt ist Karpador ein sehr unnützes Pokémon. Auf dem Shirt ist Karpador mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zu sehen, daneben stehen die Worte „When I evolve…I swear to God I’m going to kill you all!“ (siehe Abbildung 31). Tatsächlich entwickelt sich Karpador zu einem sogenannten Garados, einem besonders starken Pokémon des Typs „Drache“. Das Karpador-Shirt erlaubt es sich, ein unter Fans gängiges Klischee zu untergraben.

Ähnlich tun dies zwei weitere Shirts. Ein Shirt mit der Aufschrift „I‘ m Going to the Gym“ (siehe Abbildung 32) zeigt die bereits erwähnten Orden und verschiebt die Semantik des englischsprachigen Begriffs im Sinne des „Pokémon“-Franchises (vom „Gym“-Fitnesscenter zur „Gym“-Kampfarena). Das in Abbildung 33 zu sehende Kleidungsstück zielt ganz bewusst auf den Beginn des Franchises an. „University of Kanto – Established 1996“ ist darauf zu lesen. Erst der Faktor Zeit und die Verbreitung dessen, was das „Pokémon“-Franchise auszeichnet und somit den Begriff „Kanto“ (wie weiter oben erwähnt, ist „Kanto“ der Name der Spielumgebung im ersten „Pokémon“-Videospiel) mit einer gewissen Bedeutung auflädt, macht dieses kommerziell-parodistische Spiel meines Erachtens möglich. Zuletzt zeigen bedruckte Kleidungsstücke, dass insbesondere die drei Starterpokémon der ersten Generation Gegenstände derartiger popkultureller Referenzen sind. Das „The Starters“-Motiv (siehe Abbildung 34) spielt eindeutig auf die Covergestaltung des Albums „Abbey Road“ (1969) der „Beatles“ an. Auf einem anderen Shirt werden die Starterpokémon mit spezifischen Titeln wie „The Flash“ oder „The Bubbly“ versehen, was eine Referenz auf die Comic-Superhelden „The Fantastic Four“ darstellt (siehe Abbildung 35). Am vielleicht kreativsten gelingt dem letzten hier thematisierten Motiv eine nostalgische Referenz. Die drei Starterpokémon sitzen beisammen, eines von ihnen spielt eines der „Pokémon“-Videospiele auf dem Game Boy. Darunter ist der Schriftzug „Missing the old days“ zu sehen (siehe Abbildung 36). Der Schriftzug entspricht dabei exakt der Schriftart, die im Spiel zu finden ist. Solch ein Shirt-Motiv wäre meines Erachtens im Jahre 1999 oder 2000 kaum sinnvoll gewesen. Der Nostalgiewert und auch der popkulturelle Witz sind emergente Phänomene, von denen das Franchise erst heute ob seiner kulturellen Relevanz zehren kann und an seine Fans – sowohl im Westen als auch im Osten – weitergibt.

Tropen im „Pokémon“-Manga

Der Manga als „one country’s ‘national‘ entertainment“

It’s the whole gamut of manga’s virtual, big-screen sensations and emotions that have addicted so many Japanese […] to these magazines. In many ways, readers turn to manga for the sorts of vicarious experiences and solid visual storytelling that people in the West expect from movies.139

In seinem Werk „Manga: Sixty Years of Japanese Comics” greift Paul Gravett im Detail auf, welche Faszination der japanische Comic ausstrahlt und inwiefern er sich von der westlichen Form des Comic abgrenzt. Ein Grund dafür, dass auch westliche Leser mittlerweile Manga konsumieren würden, läge laut dem US-amerikanischen Manga-Kritiker und Historiker Charles Solomon darin, dass die finanzielle Lücke zwischen armen und reichen Menschen im Westen immer größer werde. Den nötigen Eskapismus, den ihnen ihre Umgebung ob mangelnder Fantasieangebote nicht gewähren könne, fänden Menschen daher in eben jenen fremden Geschichten aus Japan. Japanischen Comics und Animationswerken würde ein „degree of sincerity“ inhärent sein, der US-amerikanischen Produktionen fehle: „In some ways our culture has gotten more cycnical. That’s a problem of a lot of animated films from [the United States] – the characters are so sarcastic and hip, they don’t even seem to believe in the story they’re in. You don’t find that sarcasm in Japanese anime.”140 Diese Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit würde Manga- und Anime-Erzeugnissen selbst dann nicht abhanden kommen, wenn sie in utopischen Szenarien mit skurrilen Figuren spielen würden. Mit dieser Sichtweise stimmt eine Feststellung des Kulturwissenschaftlers Koichi Iwabuchi überein. Gerade fremdartige, (populär-)kulturelle Sachverhalte/Produkte seien es, die auf Konsumenten in einem anderen Land besonders anziehend wirken würden. Solchen Sachverhalten sei eine sogenannte „fragrance“ („Duftnote“) inhärent. Nationalen Produktionen fehle eine solche „fragrance“, sodass der importierte Sachverhalt umso exotischer bzw. begehrenswerter sei. Auf der anderen Seite existierten solche Dinge, die Iwabuchi als „odorless“ („geruchlos“) beschreibt. „Geruchlose“ kulturelle Güter würden ihre kulturellen Ursprünge entweder unzureichend entfalten oder versuchen, sie zu kaschieren.141 Iwabuchis „fragrance“-Medieninhalte sind also mit dem von Mirrlees benannten „one country’s ‘national‘ entertainment“ vergleichbar, wobei Iwabuchi betont, dass sich gerade in der Identifikation des „Fremdartigen“ im Medieninhalt der Rezeptionsgenuss speist. Anders ausgedrückt: Das „Dechiffrieren“ eines Mangas ist es, was dem westlichen Rezipienten Freude bereitet bzw. eine Faszination auf ihn ausübt.

„Japanamerica“-Autor Roland Kelts argumentiert, dass Manga- und Anime-Produktionen Medieninhalte seien, die exakt auf die kulturellen Erfordernisse unserer Gegenwart zugeschnitten sind. In einem Gespräch mit Yoshihiro Shimizu, Produzent beim japanischen Unternehmen Tezuka Productions, konstatiert Kelts:
In a globalizing world that has grown less centralized and less certain by the year, Japan’s comparatively case-by-case approach to life’s innumerable narratives could be remarkably, if coincidentally, well suited to the age. Japan is an island situated between the United States and China, Shimizu reasons, taking us straight into contemporary geopolitics. ‘We understand both sides, and we have to base our decisions considering those two sides. It’s the dilemma of being between two worlds, two hemispheres, and understanding, even sympathizing with both. Disney is always pushing the good side, the morally right. But the in-between world speaks to the Japanese.’142

Für das „Pokémon”-Franchise gilt das, was auch für das TMNT-Franchise gilt: Es existieren gleich mehrere Comic- bzw. Manga-Reihen von unterschiedlichen Verlagshäusern und Künstlern.143 Einige Manga erinnern an die Animationsserie, weil sie deren Hauptfigur Ash einsetzen. Andere Manga stellen wiederum Adaptionen der Kinofilme dar oder basieren auf einer Generation des Videospiel-Hauptabenteuers. Je nach Zählweise kommt man so derzeit auf nahezu 100 verschiedene „Pokémon“-Manga-Reihen.144 Stellvertretend habe ich für meine Analyse die Reihe „Pokémon Adventures: Black & White“ (Hidenori Kusaka & Satoshi Yamamoto; 2011 bis 2015) ausgewählt. Dies macht meines Erachtens aus mehreren Gründen Sinn. Sie basiert auf der „Schwarz & Weiß“-Generation des Videospiel-Hauptabenteuers (2010, Nintendo DS, Game Freak), sodass der Hauptcharakter „Black“ eben jenen Pokémon und Schauplätzen begegnet, die dem Konsumenten aus dem Videospiel bekannt sind. Somit steht der Manga absolut im synergetischen Sinne des Franchises. Außerdem erfuhr diese Reihe eine enorme sprachliche Ausdifferenzierung: Das japanische Verlagshaus Shogakukan veröffentlichte sie über ihr US-amerikanisches Tochterunternehmen Viz Media in den USA und mit anderen Partnern (wie zum Beispiel Panini Comics in Deutschland) in vielen Ländern Europas. Der „Black & White“-Manga ist somit, wie eingangs aufbauend auf Mirrlees betont, ein „national boxed entertainment media“-Erzeugnis. Meine Analyse wird verdeutlichen, dass der Manga „national stories“ vermittelt, welche den Präferenzen der nationalen Rezipienten entsprechen, aber eben zugleich von Rezipienten in anderen Ländern als „one country’s ‘national‘ entertainment“ erkannt und konsumiert wird.

Thematische Einordnung des „Black & White“-Pokémon-Mangas

Wichtig und notwendig erscheint mir vorab eine Einordung des „Black & White“-Mangas, da japanische Comics nicht mit den Konventionen westlicher Kategorisierungsmaßnahmen übereinstimmen. Anstatt sie einem bestimmten Genre wie „Fantasy“ oder „Horror“ zuzuordnen, werden Manga üblicherweise anhand der angepeilten Altersklasse und deren Geschlecht eingestuft. Grundsätzlich ist „Black & White“ dem sogenannten „shōnen“-Manga zuzuordnen. „Shōnen“-Manga zielen primär auf eine männliche und junge Klientel ab. Diese Manga-Art ist nicht nur die älteste des Mediums, sondern zugleich die marktwirtschaftlich wohl bedeutendste. In Japan erscheinen wöchentlich und monatlich unzählige „shōnen“-Magazine und –Sammelbände, sodass „shōnen“-Manga knapp 40 Prozent des dortigen Marktes ausmachen.145 Laut Yason S. Yadao, Autor von „The Rough Guide to Manga“, betonen „shōnen“-Manga die folgenden Themen:

  • friendship
  • perseverance
  • victory
  • dream fulfillment
  • fast-paced action
  • accomplishment of great things
  • advancement of skills146
Der „shōnen“-Manga zeichnet sich demnach durch ein Weiterentwicklungsprinzip aus. Dies wird umso deutlicher, als Yadao „shōnen“-Manga tatsächlich mit dem Medium des Videospiels gleichsetzt:

In fact, many by-the-numbers shōnen manga are structured not unlike a videogame, with regular ‘boss’ characters to defeat as the hero constantly improves his skills in preparation for facing the ultimate evil, his journeys filled with mischief and mayhem. No matter how dark situations may become, there’s always a feeling of optimism lurking around the corner.147

Zugleich sei aber auch darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Manga-Alters- und Geschlechterklassen nicht unüblich ist, dass mehrere Manga-Arten konvergieren. Auch aufgrund dieser Vielschichtigkeit ist es oft der Fall, dass Manga einer bestimmten Kategorie von viel jüngeren oder älteren Konsumenten gelesen werden, als deren Herausgeber eigentlich anzusprechen gedachten. Die Grenzen innerhalb des Manga-Mediums sind also aufgrund der vielfältigen Themen und auch der Kreativität der Künstler sehr fließend. Eine solche Entwicklung konstatiert auch Miriam Brunner in ihrer Analyse des Mediums:

In den letzten Jahren lässt sich eine immer stärkere Verschmelzung der Genres beobachten. Aspekte und Stilmittel, die früher bestimmten Genres vorbehalten waren, werden nun über Genregrenzen hinweg verwendet. Heute präsentiert sich Manga als ein vielfältiges, kreatives Medium, das sich nicht in festgelegte Kategorien pressen lässt.148

Das klassische Weiterentwicklungsprinzip weben „shōnen“-Manga daher in die unterschiedlichsten Themen und Genres ein. Das kann ebenso der Traum sein, eines Tages das Leben eines professionellen Fußballers zu führen („Captain Tsubasa“) als auch die Berücksichtigung von japanischer Mythologie („Dragon Ball“), das Arbeiten als Chirurg („Black Jack“), das Lösen von Kriminalfällen („Detektiv Conan“) oder die Erlebnisse einer Piratenbande („One Piece“). Um ein Franchise in der japanischen Medienlandschaft zu etablieren, vollzieht sich in der Regel etwas, was in Fachkreisen als „image alliance“ bezeichnet wird. Saya S. Shirashi fasst dieses Konzept folgendermaßen zusammen:

In Japan, artistic creativity and innovation in one popular medium quickly expand to other media, thanks to a web of “image alliances” among producers of the print media, television, movies, and character merchandise. Mutually beneficial relationships among these “divisions” of Japan’s cultural industries not only work to increase the size and earnings of those industries, they also provide a vehicle for the spread of Japan’s popular culture to other Asian countries. […] The beauty of the image alliance is that each partner helps promote the others. The image is the central component of the alliance, and the copyright to the image is shared by the original artist, the publisher, and the television company. As character images circulate in print, animation, and merchandise form, demand for the products of all members of the alliance grows. This in turn enhances the value and the revenue-generating potential of the copyright. The result of all this is a larger profit pie for all participants in the alliance to share in.149

Während das japanische „image alliance”-Konzept jedoch „comic-driven” sei, seien US-amerikanische „image alliance”-Konzepte vor allem von Filmen und TV-Serien angetrieben.150 Und tatsächlich basieren 60 Prozent aller japanischen Anime-Serien und -Filme auf dem Erfolg einer Manga-Reihe.151 Das ist westlichen Durchschnittsrezipienten häufig kaum bewusst. Die einzelnen Medienformate eines japanischen Franchises erreichen sie häufig nahezu zeitgleich und dann stehe, so Yadao, häufig die dazugehörige Animationsserie im Fokus, sodass sich Rezipienten primär mit dieser befassen.152 Dies mag, so denke ich, auch der vergleichsweise simplen Zugänglichkeit des Mediums Fernsehen geschuldet sein.

Zum einen bestätigt das „Pokémon“-Franchise mit dem Erfolg seiner Animationsserie dies, widerlegt es aber auch. Bekanntheitsgrad und Verkaufszahlen des „Pokémon“-Manga liegen im Westen hinter Mangareihen von Franchises wie „Dragon Ball“, „Naruto“ oder „One Piece“153. Zugleich kann wohl kein japanisches Franchise einen solch immensen Erfolg im Bereich der Videospiele vorweisen, wie es die „Pokémon“-Titel unter Beweis gestellt haben. All dies ändert jedoch nichts daran, dass in den Tropen eines Mangas die Unterschiede zwischen Ost und West besonders deutlich hervorstechen. Denn der Manga verlangt von seinem Rezipienten ein besonders filigranes „Aufschlüsseln“, das auch Robert. E Brenner in „Understanding Manga and Anime“ mit den Vorgängen in einem Videospiel vergleicht. „[T]o succeed in video games is closely linked to the literacy required to read manga: an understanding of the combination of text and image and the ability to follow cinematic structure and navigate through symbols and clues, and follow extended story arcs.”154 Der Umstand, dass Manga sich mit vielen Sachverhalten auseinandersetzten, könne ein Grund dafür sein, dass sich beide Geschlechter für das Medium interessieren würden. Somit seien Manga komplexer als der westliche Comic: „Every volume […] not only tells an appealing story but illuminates that much more of a language obscure to a casual reader, and those who understand the details and signals feel the thrill of a secret code.” Worin eben dieser „secret code” und dieses Lesevergnügen besteht, werde ich nun durch meine Analyse aufschlüsseln.


Quellen

128Rosenbaum, Richard: Raise Some Shell. TMNT. ECW Press. Ontario, Canada 2014. Seite 97.
129Man schaue sich allein die Auseinandersetzung des Videospieljournalismus mit dem Phänomen „Remake“ an.
Bestenlisten und Artikel, die über gelungene Neuauflagen debattieren, finden sich zuhauf. Siehe zum Beispiel: https://steemit.com/gaming/@repholder/the-best-video-game-remakes-of-all-time; http://www.usgamer.net/articles/what-are-the-best-video-game-remakes & https://gamerant.com/best-video-game-remakes-509/.
Abgerufen am 06.10.2016.
130http://www.pokewiki.de/Pok%C3%A9mon_Feuerrote_Edition_und_Blattgr%C3%BCne_Edition Abgerufen am 28.07.2016
131Wie auch die jeweiligen Originalversionen avancierten die Neuauflagen zu Titeln, die sich mehrere Millionen mal verkauften.
http://www.vgchartz.com/gamedb/?name=pokemon Abgerufen am 28.07.2016.
132http://www.pokewiki.de/Pok%C3%A9mon_Goldene_Edition_HeartGold_und_Silberne_Edition_SoulSilver#Neue_Inhalte Abgerufen am 28.07.2016.
133Bei den sogenannten Starterpokémon handelt es sich immer um drei bestimmte Pokémon, die dem Spieler zu Beginn eines Spieles zur Auswahl gestellt werden. Mit einem dieser Pokémon beginnt er dann sein digitales Abenteuer.
134http://www.pokewiki.de/Pichu#Strubbelohr-Pichu Abgerufen am 28.07.2016.
135http://www.nintendo.de/Spiele/Game-Boy/Pokemon-Blaue-Edition-266054.html Abgerufen am 28.07.2016.
136http://www.pokemonbank.com/de-de/bank/ Abgerufen am 28.07.2016.
137Von November bis Dezember 1999 verteilte die US-amerikanische Fastfood-Kette Burger King zum Beispiel spezielle „Pokémon“-Sammelkarten im Zuge des US-Starts des ersten „Pokémon“-Kinofilms.
http://web.archive.org/web/20000302091852/http://www.nintendo.com/corp/press/110199a.html Abgerufen am 06.10.2016.
138http://uk.tomy.com/products/pok%C3%A9mon-interactive-pokedex Abgerufen am 28.07.2016.
139Gravett, Paul: Manga: Sixty Years of Japanese Comics. Laurence King Publishing. London, England 2004. Seite 98.
140Zitiert in: Kelts, Roland: Japanamerica. How Japanese Pop Culture Has Invaded the U.S. Palgrave Macmillan. New York, USA; Basingstoke, England 2006. Seite 29.
141Iwabuchi, Koichi: Recentering Globalization: Popular Culture and Japanese Transnationalism. Durham, Duke University Press 2002. Seite 27.
142Ebenda. Seite 46.
143Wenngleich sich das TMNT-Franchise natürlich insofern unterscheidet, dass die Original-Comic-Reihe das Fundament des Franchises darstellt (im Gegensatz zum Videospiel-Ursprung des „Pokémon“-Franchises).
144http://bulbapedia.bulbagarden.net/wiki/Pok%C3%A9mon_manga Abgerufen am 03.08.2016.
145Yadao, Jason S.: The Rough Guide to Manga. Rough Guides Limited. London, England; New York, USA 2009. Seite 64.
146Ebenda. Seite 64 bis 65.
147Ebenda. Seite 64 bis 65.
148Brunner, Miriam: Manga. Wilhelm Fink. Paderborn 2010. Seite 62.
149Shiraishi, Saya S.: Doraemon Goes Abroad. In: Craig, Timothy J. (Herausgeber): Japan Pop! Inside the World of Japanese Popular Culture. M. E. Sharpe. Armonk, New York, USA; London, England 2000. Seite 287 bis 308. Seite 297 und Seite 299 bis 300.
150Ebenda. Seite 305.
151Yadao, Jason S.: The Rough Guide to Manga. Rough Guides Limited. London, England; New York, USA 2009. Seite 192.
152Ebenda. Seite 192.
153Dies gilt insbesondere für Deutschland und die USA. Siehe hierzu:
http://www.goethe.de/kue/lit/prj/com/ccs/csz/en8922685.htm & http://www.nytimes.com/books/best-sellers/2015/12/27/manga/?_r=0 Abgerufen am 05.08.2016.
154Brenner, Robin E.: Understanding Manga and Anime. Libraries Unlimited. Westport, Connecticut, USA; London, England 2007. Einführungskapitel, Seite x.