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Masterarbeit - Abschnitt 6

Der „Black & White“-Manga in der Analyse

„If you work hard you can accomplish everything“

Gravett unterstreicht mit dem Zitieren des Herausgebers eines „shōnen“-Manga-Magazins die zentrale Intention des Genres:

As editor of Shonen Jump Hiroki Goto explained in 1991, the weekly magazine ’shows that if you work hard you can accomplish anything. That’s what our stories are saying. And that philosophy appeals to both children and adults.’ What seems to sell Shonen Jump and other titles to boys of six to 60 is their values of friendship, perseverance – and winning.155

Der „if you work hard you can accomplish anything”-Gedanke (sprich: das Weiterentwicklungsprinzip) wird von Hauptcharakter Black immer wieder bekräftigt und macht den „shōnen“-Manga, wie von Gravett präsentiert, also durchaus auch ansprechend für ältere Leser. Die Manga-Reihe greift diesen Aspekt beispielsweise auf, als Black auf seiner Reise einen älteren Trainer trifft. Dieser verfügt über ein geringes Selbstbewusstsein und verliert seinen Pokémon-Kampf gegen Black. Dennoch ermutigt ihn Black dazu, gemeinsam mit ihm seinen Traum, eines Tages die „Pokémon League“ zu gewinnen, lautstark zum Ausdruck zu bringen (siehe Abbildungen 37 und 38, Volume 1, Kapitel vier156). Dieses Verhalten stiftet einen kameradschaftlichen Zusammenhalt zwischen den beiden Figuren, Black vergewissert sich seines eigenen Zieles und reicht das „never give up“-Motiv an den Leser weiter – ganz gleich ob sechs, sechzehn oder sechzig Jahre alt. Implizit ist hier natürlich ebenfalls die Nachricht, es im Videospiel mit den Trainern der „Pokémon League“ aufzunehmen.

Lebendige Panels & Authentizität

Im Kampf zwischen Black und jenem Trainer fällt außerdem eine ganz basale Stilistik auf, durch die der Manga vom westlichen Comic divergiert. Dies betrifft die Panels an sich: „Manga’s storytelling technique didn’t rely on richly coloured, meticulously detailed still-frame shots, but on more simply drawn yet dynamic characters, with multiple frames used to depict a single action and a raft of visual devices to keep the eye moving from one panel to the next.” Wie in den Abbildungen 39 und 40 zu sehen ist (Volume 1, Kapitel vier), spielt „Black & White“ mit eben jener Dynamik und Panel-Größe. Große Panels wechseln sich mit kleinen Panels ab, auf denen mal mehrere Pokémon, dann wieder nur jeweils eines zu sehen ist. Das Kampfgeschehen zeigt sie aus verschiedenen Perspektiven, während die Attackenbefehle ihrer Trainer sehr dynamisch eingeworfen werden. Es akkumuliert sich in der Tat ein Action geladenes und furioses Gesamtbild, das dem Rezipienten ein lebendiges Geschehen präsentiert. Dies sticht umso mehr hervor, wenn wir diese Szene aus „Black & White“ mit westlichen Comic-Narrationen wie Art Spiegelmans „Maus“ und einem kontemporären Walt-Disney-Comic vergleichen (siehe Abbildungen 41 und 42): Hier sind die Panels eindeutig strukturierter und harmonischer angelegt. Für ein geringes „glocalizing“ des Mangas spricht außerdem, dass er im Westen nicht etwa als gespiegelte Version157 erschienen ist. Westliche Rezipienten nehmen die Geschichten sofort als authentisches mediales Erzeugnis aus Japan wahr.

Große Tropfen

Laut Brenner läuft in einem Manga alles innerhalb eines melodramatischen Rahmens ab, sodass jeder Aspekt seiner Kunstform genützt werden könne, um die Dramatik zu steigern. Zudem verrate die Erscheinung eines Charakters genau so viel über ihn, wie es ein von ihm geäußerter oder über ihn gesetzter Text aussage – Emotionen seien demnach der Schlüssel, um einen Manga adäquat zu dechiffrieren.158 Das mag auf der einen Seite als Simplifizierung erscheinen, kann den westlichen Leser jedoch auf der anderen Seite enorm verwirren, sofern er mit diesen visuellen Aspekten bzw. Emotionen nicht vertraut ist. Das gilt beispielsweise für Schweißtropfen. Während diese in westlichen Comics üblicherweise nur bei körperlicher Anstrengung ihren Einsatz finden, signalisieren sie im Manga vor allem Nervosität und zeigen an, sofern einem Protagonisten etwas peinlich ist. Die Tropfen sind in der Regel am Gesicht oder den Haaren zu sehen und beschränken sich auf wenige, oft sogar nur einen Tropfen. Umso wichtiger ist daher deren Größe: „The more nervous or embarrassed [characters] are, the bigger the sweat drop, and if they are especially mortified, the sweat drop may dominate their whole impression.“159

In „Black & White” taucht ein solcher Schweißtropfen beispielsweise bei Black auf. Black befindet sich in dieser Situation kurz vor seinem nächsten Pokémon-Kampf mit der Arenaleiterin Elesa. Beim Gespräch mit ihr ist Black überrascht, woher diese so viel über ihn weiß, obwohl sie sich vorab noch nie begegnet sind. Elesa erläutert Black daraufhin, dass sie dies von White erfahren habe, einer weiblichen Protagonistin, die Black zu diesem Zeitpunkt auf seiner Reise begleitet. Wie Abbildung 43 (Volume 7, Kapitel 22) zeigt, ist Elesas Wissen Black eindeutig peinlich und zwar insbesondere als sie betont, dass sie von White „alles“ über ihn erfahren und Letztere Recht damit habe, dass er „really pretty cute“ sei. Eine andere Szene, die den Sinngehalt des Manga-Schweißtropfens verdeutlicht, zeigt Blacks Kindheitsfreunde Cheren und Bianca. Wie auch Black wollen sich Cheren und Bianca auf eine Reise begeben, um Pokémon-Meister zu werden. Biancas Vater möchte dies jedoch nicht zulassen, er zerrt an seiner Tochter und streitet sich mit ihr. Deutlich sichtbar ist Cheren dieses Verhalten in Abbildung 44 (Volume 1, Kapitel 3) sehr unangenehm. Interessanterweise gilt dies in der Abbildung auch für Biancas Pokémon Ottaro (rechts unten im Panel). Dies verdeutlicht, dass der Manga keine klare Grenze zwischen dem Verhalten von vergleichsweise realistischen Figuren und Fantasiewesen zieht. Allen wird das gleiche Maß an Emotionalität zugeordnet. Ein Merkmal, an das sich der Rezipient durch die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Medium gewöhnt.

Die übertriebene Darstellung als Erzählmittel

Anstatt narrativ entscheidende Konsequenzen und Verhaltensweisen rein verbal zu vermitteln, ist es im Manga häufig der Fall, dass diese auf sehr skurrile Weise gezeigt werden. Häufig dominieren sie dann den Text einer Figur oder machen eine Äußerung gar überflüssig. Brenner merkt dazu an: „When the background drops away or the character suddenly changes into an exaggarated version of their usual appearance, the images of the story are changing in ways that are vital to understanding the progression of character and plot.”160 Eine solche Überzeichnung ist an mehreren Stellen in „Black & White” zu finden. Als Black von White erfährt, dass diese Pokémon nicht etwa trainiert, sondern im Rahmen ihrer Talentagentur als Schauspieler einsetzt, ist sein Entsetzen unübersehbar: Blacks Gesicht verliert seine Details, sein Antlitz nimmt eine völlig andere Musterung an und es schießt ihm Dampf aus den Ohren (siehe Abbildung 45, Volume 3, Kapitel 8). Ähnlich ergeht es Black, als er sich entscheiden muss, ob er eine Kampf-Herausforderung annehmen soll, die ihn seine bereits verdienten Arenaorden kosten könnte. Deutlich sichtbar nimmt sein Gesicht zunehmend groteske Züge an, zugleich strömt ihm diesmal Dampf aus der Nase und seine Pose erinnert fast schon an Edvard Munchs „Der Schrei“ (siehe Abbildung 46, Volume 7, Kapitel 22).

Gleich zweimal zeigt sich außerdem die deutlich überzeichnete Körpergröße von Protagonisten als dezisives Merkmal. Als Black das erste Mal per Videotelefon-Device mit der Pokémon-Professorin Kontakt aufnimmt, von der er sein Starterpokémon erhalten hat, versetzt er sie mit seinen Worten in Rage. Ihre Wut ist dermaßen groß, dass sie wie ein überdimensionaler Flaschengeist aus dem Bildschirm herausspringt und Black mit einer schaudernden Fratze in Furcht versetzt (siehe Abbildung 47, Volume 6, Kapitel 20). In einer anderen Szene gerät White in einen Streit mit dem Bürgermeister einer Stadt, in der sie ein Pokémon-Musical organisiert hat. Er möchte für die Kosten eines bestimmten Teils der Premieren-Show nicht aufkommen. Das macht White dermaßen wütend, dass ihr Kopf auf eine gigantische Größe anwächst (siehe Abbildung 48, Volume 7, Kapitel 22).

Eine weitere wichtige visuelle Trope des Mangas ist die sogenannte „chibi“-Form. Dieses Phänomen leitet sich vom japanischen Wort „chibi“ ab, was grob als „Zwerg“ übersetzt werden kann und häufig verwendet wird, wenn von Kindern die Rede ist. Brenner formuliert die „chibi“-Trope folgendermaßen:

When a character is given over to a strong emotion, particularly anger, fear, begging, or romantic swooning, their entire form will shrink […]. […] Wildly gesturing or moving through the frame, their features are drastically simplified – heavy, furrowed eyebrows a slashing ‘v’ and a squiggle of a line for a mouth in anger, for example – and the symbols indicating whatever state they are in, the anger sign or a giant sweat drop hovering above their head, complete the image.161

Drei Ereignisse in „Black & White“ zeichnen die „chibi“-Trope meines Erachtens sehr adäquat nach. Als Black kurz vor seinem nächsten Arenakampf steht, nimmt er an, dass ein ungeschicktes Verhalten Biancas ihn soeben disqualifiziert hat. Daraufhin schrumpft sein Körper und er geht, vergleichbar mit einer Gummipuppe, in die Knie (siehe Abbildung 49, Volume 3, Kapitel 9). Als Blacks Pokémon in einer späteren Szene damit beginnt, sich zu seiner nächsten Stufe zu entwickeln, entsteht zwischen Black und White ein Interessenkonflikt. Natürlich ist die Entwicklung in Blacks Sinne, doch hat White etwas dagegen, da das Pokémon seine „Niedlichkeit“ verlieren würde. White weißt nicht, ob sie dieses Pokémon dann noch als Schauspieler einsetzen könnte. Black und White greifen sich an und verfallen beide in die „chibi“-Form (siehe linkes Panel in Abbildung 50, Volume 6, Kapitel 18). Interessant ist hier, dass Blacks „chibi“-Status länger anhält, als der von White: Im darauffolgenden Panel ist Black nach wie vor mit seinem wütenden, verkleinerten Äußeren zu sehen. White ist zwar ebenfalls immer noch erbost, doch indiziert die Normallänge ihrer Oberschenkel, dass das Attribut „chibi“ nicht mehr vollständig auf sie zutrifft. Erneut ist es White, die die „chibi“-Form annimmt, als sie vergeblich versucht, ein Pokémon einzufangen (siehe Abbildung 51, Volume 8, Kapitel 28). Ihre Angst ist schon im oberen Panel vorhanden, in dem sie von hinten zu sehen ist, zeigt sich in „chibi“-Form dann jedoch eindeutig im Panel darunter.

Sowohl bei den erstgenannten Überzeichnungen als auch der „chibi“-Form sind zwei Merkmale evident. In der Regel ist die Überzeichnung von keinerlei Text oder nur wenigen Worten begleitet – der Rezipient deduziert den Sinngehalt primär aus der physischen Darstellung. Es ist in der Tat so, wie Frederik L. Schodt in „Manga! Manga! The World of Japanese Comics“ behauptet, das bis heute im Bereich der Manga-Forschung als bahnbrechendes Werk gilt: „[…] [I]n many cases, the picture alone carries the story.“162 Der Dialog ist dadurch nicht überflüssig, doch drängt er sich eben nicht dermaßen auf, wie er es im westlichen Comic tut und Handlungen begleitet bzw. dominiert. Nicht weniger dezisiv ist, dass die Überzeichnungen nur für einen kurzen Moment andauern. Rasch nach der jeweiligen Verwandlung befinden sich die Protagonisten wieder in ihrer regulären Erscheinungsform. Die Narration setzt sich fort, womit sich sämtliche Akteure arrangieren – der skurrile Moment scheint gar nicht stattgefunden zu haben. Auch deshalb ist es der Fall, dass Rezipienten eine Manga-Seite in durchschnittlich weniger als vier Sekunden erfassen.163 Schodt verdeutlicht diesen zentralen Unterschied zwischen den Konventionen westlicher und japanischer Comics:

In contrast to the American comic, which is read slowly to savor lavishly detailed pictures and to absorb a great deal of printed information, the Japanese comic is scanned. In a sense it demands more of the reader, because he must actively seek out the clues on the page and interpret them. The typical young Japanese reader skims over the page with his eyes, moving forward and back, absorbing the information the drawings contain and augmenting it with the printed word. Taking in the pages as an integrated whole is an acquired skill, like slurping a bowl of piping hot Japanese noodles, in seconds, without chewing.164

Eben diesen raschen Rezeptionsmodus eignen sich westliche Leser an, indem sie Manga konsumieren und erhalten damit einen Eindruck davon, inwiefern ein ehemals fremdes Medium im Zuge der Globalisierung Konsumenten in der ganzen Welt anspricht.

Die Nähe zum Medium Film

Wie sowohl Brenner als auch Schodt betonen, gilt für den Manga etwas, was sich mit „establishing shots“ aus dem Medium des Films vergleichen lässt. Bei Ortswechseln oder prägenden Ereignissen lässt der Manga begleitende Text wie „Später, wieder zu Hause…“ weg und fokussiert sich auf die Umgebung. Die Darstellung der Umgebung allein ist es, die die neue Situation rahmt und den Leser aufklärt. Japanische Künstler in allen Medien, so Schodt, würden auf diese Weise „the overall ‘essence‘ of a mood or situation“165 transportieren.

In einer Szene der Narration wird White attackiert und verliert das Bewusstsein. Der Übergang zu dem Moment, in dem sie im Krankenhaus aufwacht, zeichnet das Implementieren eines „establishing shot“ ohne Worte sehr gut nach. Im Anschluss an eine Szene, in der Black sich mit anderen Charakteren unterhält, taucht das Bild eines großen Gebäudes auf (siehe Abbildung 52, Volume 8, Kapitel 26). Darauf folgt ein Bild von White in einem Krankenhausbett und einer Nahaufnahme ihres Gesichtes. Ohne jeglichen Texthinweis ist dem Leser nun klar, wo er bzw. die Protagonisten sich befinden.

Freizügigkeit

Den freizügigen Umgang japanischer Populärmedien mit dem menschlichen Geschlecht und sexuellen Angelegenheiten habe ich bereits thematisiert. Auch im „Black & White“-Manga sticht dieser Umstand stellenweise hervor. Als Black der schon erwähnten Arenaleiterin Elesa das erste Mal begegnet, kümmert sie sich gerade um ihr Pokémon. Sie befindet sich dabei eindeutig in einer Pose, die ihr Gesäß betont (siehe Abbildung 53, Volume 7, Kapitel 22). Drei weitere Male wird die Form ihres Körpers daraufhin mit besonderer Akzentuierung dargestellt (siehe Abbildungen 54, 55 und 56). Dabei fällt vor allen Dingen der Blick Blacks auf, der vom Anblick Elesas irritiert scheint. „Black & White“ schreckt an diesen Stellen nicht davor zurück, weibliche Reize zu verschleiern, sondern präsentiert sie den vornehmlich jungen Rezipienten recht direkt, jedoch unkommentiert. Dies deckt sich mit einer Feststellung Schodts:

To be sure, in boys‘ comics the goal is often titillation, a trend that has been increasing as violence levels off; girls are drawn from ground perspective to better display their underwear, and a disproportionate number of frames on a page are devoted to enticing shots of bare breasts and exposed thighs. What was once unthinkable in Japanese comics is now the norm. Horribly well behaved Japanese children are reading stories with scenes that make adult visitors from other, more ‘liberal’ cultures blanch. While the elimination of taboos in Japanese children’s comics has given rise to many stories of questionable artistic value, it has also been a vital factor in the growth of the whole medium.166

Ich denke nicht, dass die dem „shōnen“-Manga zugehörige Reihe hier so weit geht, wie es die sogenannten „seinen“-Manga tun. Diese richten sich an ein eine erwachsenere männliche Leserschaft, indem sie „more frank depictions of violence and sex“167 implementieren. Die Darstellung Elesas verdeutlicht, dass der Manga als japanisches Medienformat vergleichsweise offen mit solchen Darstellungen umgeht und dabei keinesfalls apodiktisch vorgeht, sondern allein dem Rezipienten die Interpretation überlässt. Anders als bei dem analysierten „Darf ich an deiner Brust nuckeln?“-Fall mit Protagonistin Misty in der Animationsserie, fand im Manga keine „Entschärfung“ der Situation statt. Aus dieser Perspektive ist der „Black & White“- Manga weniger „glocalized“, sodass er die prägnanten Merkmale dieses japanischen Mediums unangetastet in den Westen trägt.

Bevor ich nun im letzten Teil meine Ergebnisse zusammentrage und ein Fazit ziehe, werde ich noch auf das eingangs erwähnte Thema „fad“ (Kurzzeitphänomen) eingehen. In einer Art Rekapitulations-Zwischenspiel möchte ich aufzeigen, mittels welcher Vorkehrungen es das Franchise aus meiner Sicht vermieden hat, als Kurzzeitphänomen in der medialen Landschaft zu verblassen und seine Anziehungskraft zu verlieren. Dieses Thema ist vor allem deshalb einer Betrachtung wert, weil einige Autoren zwischenzeitlich ein Verschwinden des „Pokémon“-Franchises erwarteten, ein solches de facto aber nicht eintrat.

Kein „fad“, sondern vielschichtig und postfordistisch

Den Erfolg und Status des Pokémon-Franchises adäquat einzuordnen, fällt ob dessen Komplexität ohne Frage sehr schwer. Joseph Tobin präsentiert rückblickend auf dessen „Ausbruch“ eine positive und eine negative Sichtweise des „Pokémon“-Phänomens. Die negative Sichtweise sehe folgendermaßen aus:

[…] [A]s fast and inexplicably as the Pokémon phenomenon took off, it slows down. By the middle of 2000, Pokémon’s Japanese and American consumers are bored, restless, looking for something new. Pokémon’s ‘cool’ factor suddenly has evaporated. Executives at Nintendo are planning for Poké-lands, preparing to release new movies, and issuing optimistic press releases. But the kids of the world have moved on. […] A systematic analysis of the history of Pokémon’s product rollouts, both domestically and overseas, can tell us to what degree Nintendo developed and followed a plan and to what degree they benefited from unforeseen, fortuitous events, and have themselves been taken by surprise, first by the rapidity and size of their success, and then by their products’ sudden loss of coolness among the kid cognoscenti.168

Tobin formulierte diese Worte bewusst polemisch, doch sind sie auch aus einem weiteren Grund mit Vorsicht zu genießen. Tobins Buch erschien 2004. Die darin vorgenommene Analyse des „Pokémon“-Phänomens ereignete sich also zu einem Zeitpunkt, als sich wohl nicht eindeutig bestimmen ließ, ob sich das Franchise der Medienindustrie dauerhaft beiwohnen sollte. Dennoch erkenne ich in den Beiträgen die dominierende Sichtweise, dass die Autoren dem Franchise keine Dauerhaftigkeit zuschreiben. Dies macht schon der Titel des Buches, „Pikachu’s Global Adventure: The Rise and Fall of Pokémon“, klar.

Allerdings lässt sich im Jahre 2016 eindeutig argumentieren, dass es nicht als „fad“ enden sollte. Der „Hype“, der wie von Tobin genannt kurz vor der Jahrtausendwende um die „Pokémon“ herrschte, mag vorüber sein. Doch ist das Franchise nach wie vor bedeutsam für die dahinter stehenden Unternehmen und wird von Konsumenten stark frequentiert. Ich möchte nun die entscheidenden Aspekte nennen, die zu dieser Langfristigkeit meiner Meinung nach beitrugen.

De Peuter, Dyer-Whiteford und Kline interpretieren das Medium Videospiel in „Digital Play“ folgendermaßen: „[…] [T]he interactive game can be seen as an ‘idealtype‘ commodity exemplifying the current phase of capitalist market relations, which maintains growth through the integrated management of technological innovation, cultural creativity, and mediated marketing.“169 Die Autoren sehen das Medium als ein postmodernes, postfordistisches Artefakt. Während materielle Güter im „alten” System des Fordismus den Markt schnell übersättigt hätten, sei der postfordistische Markt mit seinen immateriellen Gütern „potentially always renewable”.170 Dadurch animiere das Videospiel den Konsumenten zum konstanten Gebrauch seiner Vorstellungskraft: „Reality disintegrates into an ever-shifting, recursive, and cross-referencing kaleidoscope world of lifestyles, language games, and entertainment. Identities and meaning are ceaselessly subverted by the apprehension […]. Interactive play is simulated experience par excellence.“171 Die so rasante Videospiel-Industrie zeichne sich durch „short-lived play value of software” und „successive waves of hardware innovation” aus.172

Ich denke, genau hier „dockt” das “Pokémon“-Franchise an. Nintendo veröffentlicht neue Abenteuer konstant auf seinen aktuellen Videospielsystemen, legt aber eben auch bereits erschienene Spiele neu auf. „Imaginativ“ erfindet sich das Franchise ebenfalls immer wieder neu. Das beweisen unter anderem erste „Pokémon“-Anwendungen fürs Smartphone, wie das 2016 veröffentlichte „Pokémon Go“. Oder auch die Tatsache, dass das „Pokémon“-Sammelkartenspiel zunächst in physischer Form vorlag und später um ein nicht greifbares Online-Äquivalent erweitert wurde. Die offizielle „Pokémon“-Website präsentiert mehrere Ebenen des „Pokéverse“ und lädt damit sowohl zu einer „lean back“- als auch einer „lean forward“-Medienauseinandersetzung ein. Das Verlangen, die Website zu besuchen, wird ferner dadurch untermauert, die „Enthüllung“ eines neuen Pokémon gleich einer News-Meldung aufzuziehen.

Zweitens ist es die Vielschichtigkeit und Quantität der „Pokémon“-Wesen selbst, die das Franchise vor dem „fad“-Schicksal bewahrt hat. Die Pokémon bieten Kindern ein breites Fantasiespektrum, um sich individuelle Favoriten herauszupicken. In diesem Sinne sollte sich vor allem die Integration der verschiedenen „Pokémon“-Typen als geschickter Schachzug erweisen. Spieler können sich auf Pokémon eines gewissen Typs spezialisieren, besonders viel Wissen über diesen Typ anhäufen und dieses Wissen dann – durchaus stolz – in einem edukativen Sinne an andere Spieler weitergeben. Zudem sind einige Pokémon besonders kräftig und maskulin, andere wiederum besonders „niedlich“, wodurch der Anspruch beider Geschlechter sichergestellt ist. Beim Franchisevergleich wurde dies eindeutig: Das Identifikationspotenzial für Kinder ist bei vier Ninja-Schildkröten natürlich vorhanden, aber begrenzt. Mehr als 700 unterschiedliche Fantasiewesen bieten als „sliding signifiers“ weitaus mehr Raum. Nicht zuletzt sind Pokémon im Nachhinein „erweiterbar“, indem die Produzenten sich Wesen ausdenken, die als neue Entwicklungsstufen von schon bekannten Pokémon fungieren. Dass zahlreiche menschliche Charaktere dieses Universum ebenfalls bevölkern, trägt dazu bei, dass sich das Fantasieterrain nicht nur auf Monsterwesen beschränkt. Das Franchise entpuppt sich als ein medial durchdacht konzipiertes Konstrukt, das Konsumenten bestens vertraute Wesen und neue Pokémon präsentiert, mit denen sie sich darüber hinaus so befassen können, wie es ihnen gefällt: Als Pokémon-Trainer oder als eher inszenatorisch agierender Pokémon-Koordinator im Videospiel, als Leser der Manga-Abenteuer, als Rezipient der Animationsserie, als Spieler des Sammelkartenspiels oder vielleicht auch „nur“ als Sammler der Sammelkarten und/oder Spielzeugfiguren. Ob der synergetischen Marketingstruktur ist ironischerweise eines gesichert: Der Marketingclaim „Schnapp‘ sie dir alle“ treibt zur munteren Akkumulation aller „Pokémon“ an, die sich aufgrund der Integration neuer Wesen seitens der Unternehmen jedoch als unstillbar erweist. Bewusst polemisch formuliert: „Schnapp‘ sie dir alle“ ist die lukrativste Marketing-Lüge aller Zeiten.


Quellen

155Gravett, Paul: Manga: Sixty Years of Japanese Comics. Laurence King Publishing. London, England 2004. Seite 59.
156Da der für die Analyse von mir genutzte „Black & White“-Sammelband auf die Nennung von Seitenzahlen leider verzichtet, muss die jeweilige Angabe des jeweiligen Kapitels ausreichen.
157Manga werden im Original von rechts nach links gelesen. Da Herausgeber dies westlichen Rezipienten nicht zumuten wollten, wurden die ersten Manga in Europa und den USA (in den frühen 1980er-Jahren) als gespiegelte Versionen veröffentlicht, damit sie mit westlichen Lesekonventionen übereinstimmten. Heute ist jedoch das Veröffentlichen als ungespiegelte Version die Norm und wird von westlichen Manga-Lesern sogar als Qualitäts- und Authentizitätsmerkmal geschätzt. Interessanterweise ist diese Entwicklung, die Herausgebern eine Menge Lokalisationskosten spart, nicht etwa auf eine freiwillige Entscheidung zurückzuführen. Als der „Dragon Ball“-Manga von Akira Toriyama erstmals 1997 im Westen erschien, stimmte Toriyama dem nur zu, sofern seine Reihe eine ungespiegelte Veröffentlichung finden würde (siehe Brunner; Seite 71 ff.).
158Ebenda. Seite 28.
159Ebenda. Seite 54.
160Ebenda. Seite 28.
161Ebenda. Seite 56 bis 57.
162Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The World of Japanese Comics. Kodansha International Limited. New York, USA; London, England; Tokio, Japan 1983. Überarbeitete Auflage 1997. Seite 21.
163Ebenda. Seite 22.
164Ebenda. Seite 23 bis 24.
165Ebenda. Seite 22.
166Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The World of Japanese Comics. Kodansha International Limited. New York, USA; London, England; Tokio, Japan 1983. Überarbeitete Auflage 1997. Seite 125 bis 126.
167Yadao, Jason S.: The Rough Guide to Manga. Rough Guides Limited. London, England; New York, USA 2009. Seite 65.
168Tobin, Joseph: Introduction. In: Tobin, Joseph (Herausgeber): Pikachu’s Global Adventure. The Rise and Fall of Pokémon. Duke University Press. Durham und London, England 2004. Seite drei bis elf. Seite sieben und Seite neun.
169De Peuter; Greig; Dyer-Witheford, Nick; Kline, Stephen: Digital Play. The Interaction of Technology, Culture, and Marketing. McGill-Queen’s University Press, Montreal & Kingston, London, Ithaka 2003. Seite 29.
170Ebenda. Seite 68.
171Ebenda. Seite 69.
172Ebenda. Seite 220.